75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

„Es geht um die Menschlichkeit des Menschen selbst"
(Emmanuel Lévinas, 1934)

60 Jahre Menschenrechte. Und noch nicht am Ziel!, so lautete im November 2008 das Thema der ersten Konferenz von Convivio mundi e.V. nach der Gründung 2007. Anlass war der 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Dezember 1948. Und jetzt, 15 Jahre später, wo stehen wir zum 75. Jahrestag? Wieder sind nationalistische Bewegungen im Aufwind und Menschenverachtung, Gewalt, Terror und Krieg scheinen leichtes Spiel zu haben. Doch wie konnte es erneut zu diesem Dammbruch kommen? Gibt es „Unvorhersehbarkeiten der Geschichte“, die die Lehren aus der Geschichte vergessen lassen? Unter diesem Titel Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte hat der Verlag Karl Alber einen Sammelband mit Texten des französischen Philosophen Emmanuel Lévinas herausgebracht, Texte, die sich über den Zeitraum von 1929 bis 1992 erstrecken. Darunter besonders bemerkenswert und hochaktuell der kurze Aufsatz Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus, geschrieben 1934.

(Buchcover: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG)


1934, als Lévinas den Text, mit dem der Sammelband beginnt und der hier zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt, an Emmanuel Mounier, Herausgeber der Zeitschrift Esprit, zur Veröffentlichung schickt, ist er gerade mal 28 Jahre alt. In kühler, trockener Sachlichkeit entwickelt er, dass sich hinter dieser „ganzen erbärmliche(n) Phrasenhaftigkeit“ des Hitlerismus, der „mehr als eine Seuche oder eine Verwirrtheit des Geistes“ sondern „das Erwachen elementarer Gefühle“ ist, tatsächlich eine Philosophie verbirgt und sie gerade deshalb so „schrecklich gefährlich“ macht. „Die Philosophie des Hitlerismus geht darum auch über den Kreis der Hitleranhänger hinaus. Sie stellt die Prinzipien der Zivilisation als solche in Frage. Der dabei auftretende Konflikt spielt sich nicht nur zwischen Liberalismus und Hitlerismus ab, sondern er bedroht das Christentum selbst.“
Ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers hatten nur sehr Wenige, insbesondere in der philosophischen Zunft diese vorausschauende Erkenntnis. Wieso verstand dieser junge Denker die „Zeichen an der Wand“?
Im Gespräch mit Bertrand Révillon für La Crois erklärt Lévinas 1992, drei Jahre vor seinem Tod, auf die Frage, wie er einem jungen Menschen, der ihn nach der Definition der Philosophie frage, antworten würde:

„Ich würde ihm sagen, dass die Philosophie dem Menschen erlaubt, sich in
dem zu prüfen, was er sagt, und in dem, was er sich selbst sagt, wenn er
denkt. Sich also nicht länger vom Rhythmus der Wörter und dem Allgemeinen,
auf das sie verweisen, einlullen und berauschen lassen, sondern sich zu
öffnen für die Einzigartigkeit des Einmaligen in der Wirklichkeit, d.h. die
Einzigartigkeit des Anderen. Und das heißt letztlich für die Liebe.“
(Vom
Nutzen der Schlaflosigkeit,
1992)


Treffender kann Lévinas’ Lebensweg, sein Werk und Ringen um die Wahrheit und die Verantwortung für den Anderen in der „Konkretheit“ dieser Welt nicht zusammengefasst werden.

Lévinas und die Phänomenologie Edmund Husserls


1906 wird Lévinas im litauischen Kaunas als Kind strenggläubiger Juden geboren. In Frankreich beginnt er 1923 an der Universität Straßburg mit dem Studium der Philosophie und entdeckt und begeistert sich für die Arbeiten von Edmund Husserl. 1927/28 zieht es ihn nach Freiburg in „die Stadt der Phänomenologie“, wo er Seminare Husserls und seines Schülers Martin Heidegger besucht.

Edmund Husserl
Edmund Husserl (Bildquelle: Wkipedia)

„Es war in den Jahren 1900/1901, als Husserl, der zu dieser Zeit Privatdozent
in Halle war, die Logischen Untersuchungen veröffentlichte, in denen die neue
Art des Philosophierens erstmals ihren Ausdruck fand. Ein gewaltiger
Umbruch: Begeisterte Schüler strömten nach Göttingen, wo der junge Meister
bis zum Jahre 1916 lehrte. Von Jahr zu Jahr eroberte dann die
Phänomenologie immer neue Fakultäten innerhalb Deutschlands, ja ihr
Einfluss breitete sich sogar über die Grenzen der Philosophie hinaus aus und
griff auf die Geschichte, die Soziologie, die Psychologie, die Philosophie, die
Rechtswissenschaften über. Er ging selbst über die deutschen, ja sogar über
die europäischen Grenzen hinaus. (Bereits 1911 spricht Victor Delbos in der
Revue de métaphysique et de morale von Husserl.) 1916 ließ sich Husserl in
Freiburg nieder und lebt dort, nachdem er einen Ruf an die Universität Berlin
abgelehnt hat, noch heute.
Ich bin zu einem Zeitpunkt nach Freiburg gekommen, als der Meister seine
regulären Lehrverpflichtungen gerade aufgegeben hatte, um sich ganz der
Veröffentlichung seiner zahlreichen Manuskripte zu widmen. Ich hatte das
Glück, an einigen Vorträgen teilnehmen zu können, die er gelegentlich vor
einer stets dicht gedrängten Zuhörerschaft hielt. Nachfolger auf seinem
Lehrstuhl wurde Martin Heidegger, sein genialster Schüler, dessen Name jetzt
wie ein Stern am Himmel Deutschlands strahlt.“
(Freiburg, Husserl und die
Phänomenologie
, 1931)


Die „Wissenschaft der inneren Anschauung“, diese „neue Art des Philosophierens“, betrachtet „dieses Leben selbst in seiner Konkretheit“, wie er in Über die Ideen von E. Husserl schreibt. Die Phänomenologie Husserls stellt „das urteilende Bewusstsein selbst als einen Forschungsgegenstand vor“. Das Bewusstsein umfasst „nach Husserl den ganzen Bereich des ,cogito’ im cartesianischen Sinne des Wortes: ich denke, ich verstehe, ich begreife, ich verneine, ich will, ich will nicht, ich stelle mir vor, ich fühle usw. Das Eigentümliche der ganzen Bewusstseinssphäre – des aktuellen (im Modus aufmerksamer Zuwendung) und des potentiellen (des Bereichs, der die Gesamtheit der möglichen Bewusstseinsakte umfasst und ohne den das aktuelle Bewusstsein undenkbar wäre) – besteht darin, immer ,Bewusstsein von etwas’ zu sein: Jede Wahrnehmung ist die Wahrnehmung eines ,Wahrgenommenen’, jeder Wunsch ist der Wunsch eines ,Gewünschten’ usw. Husserl nennt diese Grundeigenschaft des Bewusstseins Intentionalität. (…) Die große Genialität Husserls besteht darin, gesehen zu haben, dass die ,Beziehung auf den Gegenstand’ nicht etwas ist, das sich zwischen das Bewusstsein und den Gegenstand schiebt, sondern dass diese ,Beziehung auf den Gegenstand’ nichts anderes als das Bewusstsein selbst ist. Es ist die Beziehung auf den Gegenstand, die das ursprüngliche Phänomen darstellt, und nicht ein Subjekt und ein Objekt, die zueinander finden müssten.“
Auf völlig neue Weise stellt sich jetzt für Lévinas „die Frage nach Vernunft und Wirklichkeit“. Geht es doch darum, „zu erklären, was das Bewusstsein denkt, wenn es ein wirkliches Objekt denkt, und wie die Intentionalität, die auf das Sein trifft, zu charakterisieren ist. Wie lässt sich das Wahrsein beschreiben, was bedeutet es?“

1929, im Alter von 23 Jahren, publiziert Lévinas seinen ersten Text in Frankreich, es ist eine Studie Über die Ideen von E. Husserl, aufgenommen in den Sammelband. Ein Jahr später promoviert er mit einer Dissertation über Die Theorie der Intuition in der Phänomenologie Husserls, im darauffolgenden Jahr übersetzt er Husserls Cartesianische Meditationen und macht sie in Frankreich bekannt. 1931 wird Lévinas französischer Staatsbürger und 1939 zum Militärdienst eingezogen. Er gerät 1940 in deutsche Gefangenschaft und muss in der Nähe von Fallingbostel in der Lüneburger Heide in einem Arbeitskommando schuften. Seine französische Uniform rettet ihm zwar das Leben, aber seine Eltern, zwei Brüder und Angehörige seiner Frau werden von den Nazis ermordet.

Das Gesicht des Anderen


Zu den Lesern der phänomenologischen Arbeiten des jungen Lévinas gehört auch Jean-Paul Sartre. Im Band lassen vier ausgewählte, kurze Texte Existentialismus und Antisemitismus (1947), die Wirklichkeit und ihr Schatten (1948), Eine uns vertraute Sprache (1980), Sartre entdeckt die heilige Geschichte (1980) Übereinstimmung und Unterschiede zwischen beiden Denkern über die Jahre erkennen. Ebenso weisen Ein Brief Jean Wahl betreffend (1937) und Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch Kleine Geschichte des Existentialismus (1947) auf den Einfluss und die beginnende Auseinandersetzung mit der Philosophie Martin Heideggers, dem Autor von Sein und Zeit hin, besonders nach dessen Annahme des Freiburger Rektorats und berüchtigter, nationalsozialistisch konnotierter Rektoratsrede vom Mai 1933. So schreibt Lévinas 1980 in Eine uns vertraute Sprache:

Martin Heidegger
Martin Heidegger (Bildquelle: Willy Pragher/Wikipedia)

„Von Sartre stammt der Gedanke, dass die Freiheit des Menschen in allem, was sich ihm an Zwängen auferlegt,
zurückgewonnen werden kann (…) Dass diese Freiheit sich nie in eine Beschwörung erloschener heidnischer Mythen
verkehrte, die mit dem Ideal eines persönlichen Heils verbunden waren, sondern dass Sartre sie vom ersten
Augenblick an als eine Sorge ,um die Anderen’, als eine Quelle der Verantwortung, die es jenem gegenüber zu
übernehmen gilt, der uns ganz offensichtlich ,nichts angeht’, angesprochen hat, dies war mit Sicherheit ein Aspekt,
der im Bewusstsein der Juden eine ganz besondere Aufmerksamkeit auslöste. Angst um eine Freiheit, die sich
sofort den Anderen zuwendet, und die nicht wie bei Heidegger, dem Philosophen vor dem Genozid, Angst um
meinen Tod ist, Angst um das, was ,mein Eigenstes’ ist in der Sorge des Menschen, der ich bin, um mein Sein selbst.“

Im Gespräch über Vom Nutzen der Schlaflosigkeit, 1980 erklärt er:

„Wenn ich vom Anderen spreche, verwende ich den Ausdruck ,Gesicht’. Das ,Gesicht’ ist das, was hinter der Fassade
und hinter der Haltung, die jeder zu bewahren sucht, liegt: Es ist die Sterblichkeit des Nächsten. Um das ,Gesicht’
des Anderen zu sehen, und zu erkennen, muss man schon hinter seine Maske schauen. In der Nacktheit des
,Gesichts’ zeigt sich die Ohnmacht eines einzigartigen Seienden, das dem Tod ausgesetzt ist; gleichzeitig aber kommt
in ihm ein Imperativ zum Ausdruck, der mich dazu verpflichtet, es nicht allein zu lassen. Diese Verpflichtung ist
Gottes erstes Wort. Für mich beginnt die Theologie im Gesicht meines Mitmenschen. Die Göttlichkeit Gottes ereignet
sich im Bereich des Menschlichen. Das ,Gesicht’ ist der Ort der Deszendenz Gottes. Gott erkennen heißt sein Gebot
,Du sollst nicht töten’ hören, wobei dieses Gebot nicht nur ein Verbot des Mordes ist, sondern zugleich ein Ruf zu
einer unablässigen Verantwortung dem Anderen gegenüber – dem einzigartigen Seienden –, so als ob ich zu dieser
Verantwortung auserwählt wäre, die mir, auch mir selbst, die Möglichkeit gibt, mich als einzigartig zu
erkennen, als ein Seiendes, das unersetzbar ist und ,Ich’ sagen kann. Ich werde mir bewusst, dass ich bei jedem
einzelnen Schritt, den ich als Mensch unternehme – und bei dem der Andere niemals abwesend ist –, bereits die
Verantwortung für die Existenz dieses Anderen in seiner Einzigartigkeit trage.“


Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus

In diesem Wissen und dieser Verantwortung um die wahre Freiheit des Menschen erklärt sich auch, dass Lévinas von Anfang an Distanz zum Nationalsozialismus, wie auch zum Marxismus wahrte, wie der Aufsatz Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus – geschrieben 1934 – zeigt, mit dem der lesenswerte Band Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte beginnt. Für Lévinas beginnt die Auseinandersetzung mit der Philosophie Martin Heideggers und der für ihn schwierige und schmerzhafte Prozess der Loslösung von seinem einstigen Lehrer in Freiburg, dessen Name nicht nur damals „wie ein Stern“ am deutschen Philosophenhimmel strahlt.
Bedeutsam und erschreckend zugleich ist, dass Lévinas’ Betrachtungen in der Klarheit der Analyse nichts an Aktualität eingebüßt haben. Stellt sich doch heute die Frage, wohin führen uns das vorherrschende Kosten-Nutzen-Denken und die Gier nach dem schnellen Geld und dessen Macht? Wohin die sich ausbreitende Konsum- und Wegwerf-Kultur, die inzwischen selbst vor dem Menschen nicht Halt macht? Wohin das in ausgelebter Ich-Bezogenheit fröhliche Spielen in der virtuellen Welt der Avatare?

Lévinas’ unermüdliche Mahnung und Suche nach einem anderen, menschlichen Weg gründet in dem persönlichen Erleben der Grausamkeit und Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus und der wachsenden Überzeugung „einer grundsätzlichen Möglichkeit des elementalen Bösen (…) gegen die sich die abendländische Philosophie nicht ausreichend geschützt hat“.
Als Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus 1990 in der amerikanischen Übersetzung in der Zeitschrift Critical Inquiry erscheinen soll, schickt Lévinas handschriftlich folgendes Nachwort an den Herausgeber:

„Dem Aufsatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Ursprung der blutigen
Barbarei des Nationalsozialismus nicht in einer zufälligen Anomalie der
menschlichen Urteilsfähigkeit und auch nicht in einem bloßen ideologischen
Missverständnis zu suchen ist. Er will vielmehr die Überzeugung zum
Ausdruck bringen, dass dieser Ursprung aus einer grundsätzlichen Möglichkeit
des elementalen Bösen herrührt, zu der die Logik führen kann und gegen die
sich die abendländische Philosophie nicht ausreichend geschützt hat: eine
Möglichkeit, die der Ontologie des Seins eingeschrieben ist, das sein will – ein
Sein, so die heideggersche Formulierung, ,dem es in seinem Sein um dieses
Sein selbst geht’; eine Möglichkeit, die auch noch das Subjekt bedroht, das in
Korrelation steht zu einem Sein, das es ,zu sammeln’ und ,zu beherrschen’
gilt, dieses berühmte Subjekt des transzendentalen Idealismus, das sich als
freies will und für ein solches hält. Man muss sich fragen, ob der Liberalismus
genügt, um zur eigentlichen Würde des menschlichen Subjekts zu gelangen.“


In den Betrachtungen bleibt uns Lévinas die Antwort nicht schuldig. In aller Schärfe und Klarheit zeigt er die Konsequenzen dieses Denkens auf. In Anbetracht der Bedeutsamkeit und Weitsicht wird daher der Aufsatz nun in ausführlichen Auszügen zitiert. So schreibt Lévinas 1934:

„Der Geist der Freiheit, der innerhalb der europäischen Zivilisation für eine
bestimmte Auffassung von der Bestimmung des Menschen steht, erschöpft
sich nicht in den politischen Freiheiten. In ihr drückt sich vielmehr ein Gefühl
der Absolutheit menschlicher Freiheit gegenüber der Welt und den
Handlungsmöglichkeiten in ihr aus. Ausgesetzt ins Universum, ist der Mensch
ewig dazu bestimmt, mit sich selbst neu anzufangen. (…) Die Zeit, als
Bedingung der menschlichen Existenz, ist vor allem die Bedingung des
Irreparablen. Die vollendete Tatsache, die mit der flüchtigen Gegenwart
fortgerissen wird, bleibt für immer dem Zugriff des Menschen entzogen, lastet
aber auf seinem Schicksal. Hinter der Melancholie des ewigen Flusses der
Dinge (…) liegt die Tragödie einer unauslöschlichen Vergangenheit in ihrer
Unabsetzbarkeit, die jede Initiative dazu verurteilt, nichts anderes als immer
nur Anknüpfung zu sein. Die wirkliche Freiheit, der wirkliche Anfang würde
dagegen eine wirkliche Gegenwart erfordern, die, immer auf dem
Scheitelpunkt einer Bestimmung, mit dieser Freiheit ewig aufs Neue beginnen muss.

Aus dem Judentum kommt diese wunderbare Botschaft in die Welt, dass sich
im Gewissensbiss – dem schmerzhaften Ausdruck für die radikale Ohnmacht,
das Irreparable wieder in Ordnung zu bringen – die Reue ankündigt, welche
zur Vergebung führt, die etwas wieder gutmacht. Der Mensch findet also in der
Gegenwart etwas vor, womit er die Vergangenheit verändern, ja sogar
auslöschen kann. Die Zeit verliert damit ihre Unumkehrbarkeit. Wie ein
verletztes Tier bricht sie kraftlos zu Füßen des Menschen zusammen. Und befreit ihn.

Das quälende Gefühl der schlichten Ohnmacht des Menschen angesichts der
Zeit macht die ganze Tragik der griechischen Moira aus, die ganze
Unerbittlichkeit des Gedankens der Sünde sowie die ganze Größe des
Christentums in seiner Revolte. Den Atriden, die sich im Würgegriff einer
Vergangenheit winden, die befremdlich und brutal ist wie ein Fluch, stellt das
Christentum ein mystisches Drama entgegen. Das Kreuz macht frei; und durch
die Eucharistie, die über die Zeit triumphiert, geschieht die Befreiung jeden
Tag neu. Das im Christentum verheißene Heil liegt in dem Versprechen, mit
dem Endgültigen, das sich im Verrinnen der Augenblicke vollendet, wieder neu zu beginnen.“

Und er fährt fort:

„Auch wenn der Liberalismus der vergangenen Jahrhunderte den
dramatischen Aspekt dieser Befreiung gerne ausblendet, so ist er doch selbst
wesentlich davon betroffen, insofern er sich nämlich als souveräne Freiheit der
Vernunft begreift. Das gesamte philosophische und politische Denken der
Neuzeit neigt dazu, den menschlichen Geist auf einer Ebene zu situieren, die
über der Wirklichkeit liegt, und erzeugt dadurch eine Kluft zwischen dem
Menschen und der Welt. Weil dieses Denken die Anwendung der Kategorien
der natürlichen und sinnlichen Welt auf die Geistigkeit der Vernunft
ausschließt, legt es den äußersten Grund des Geistes außerhalb der rauen
und brutalen Welt und jenseits der unerbittlichen Geschichte konkreter
Existenz. Es setzt an die Stelle einer Welt, die durch den gemeinen
Menschenverstand verblendet ist, eine durch die idealistische Philosophie
rekonstruierte Welt, die von Vernunft durchwaltet und der Vernunft
unterworfen ist. Die Befreiung durch Gnade wird durch die Autonomie ersetzt,
aber auch durch sie zieht sich das jüdisch-christliche Leitmotiv [im Original
deutsch; Anm. d. Üs.] der Freiheit. (…) In einer vom Geist des Liberalismus
geprägten Welt lässt sich der Mensch in der Wahl seiner Bestimmung nicht
durch die Last der Geschichte leiten.“


Doch welche Lebens- und Überlebenschance hat der Mensch in dieser idealen „rekonstruierte(n) Welt“ „außerhalb der rauen und brutalen“ Wirklichkeit ohne den Blick auf „das ,Gesicht’ des Anderen“ zu werfen und die Intentionalität zu haben zur Veränderung dieser Welt, die uns herausfordert, weil die Natur immer wieder „mit ganzer Wucht in die zivilisierte Welt hereingebrochen ist: ein Komet, der sich näherte, ein Vulkan, der Feuer spuckte, die Erde, die bebte.“ (Über den Geist von Genf, 1956) Wohin führt also diese Logik, die die Freiheit des menschlichen Geistes außerhalb „dieser Konkretheit des Lebens“ setzt?

Folgend zeigt Lévinas, wie das materialistische Denken des Marxismus und NS-Rassismus die Unschärfe nutzen und den „Zauberstab der Vernunft“ des aufgeklärten Liberalismus zerbrechen. Beide denken materialistisch. Ist die Ökonomie die wichtigste Materie für den Marxisten, so sind die „mysteriösen Stimmen des Blutes“ und das obsessive „Gefühl für den Leib“ die entscheidende Materie für den NS-Rassisten:

Emmanuel Lévinas
Emmanuel Lévinas (Bildquelle: Bracha L. Ettinger / Wikipedia)

Der Marxismus bestreitet diese Auffassung vom Menschen, und zwar
erstmals in der Geschichte der westlichen Tradition.

Der menschliche Geist erscheint ihm nicht mehr als reine Freiheit, wie eine
Seele, die jenseits von allen Bindungen schwebt; er ist nicht mehr die reine
Vernunft, die zu einem Reich der Zwecke gehört. Er selbst ist den materiellen
Bedürfnissen ausgeliefert. Doch mag er auch der Materie und der
Gesellschaft, die beide nicht mehr dem Zauberstab der Vernunft gehorchen,
ausgesetzt sein, so hat seine konkrete und abhängige Existenz dennoch mehr
Bedeutung und Gewicht als die ohnmächtige Vernunft. Der Kampf, der der
Einsicht vorausliegt, zwingt ihr Entscheidungen auf, die sie selbst nicht
getroffen hat. ,Das Sein bestimmt das Bewusstsein.’ (…)

Der Geist in der traditionellen Auffassung büßt seine Macht, sich aus den
Fesseln der konkreten Existenz befreien zu können, ein, auf die er immer so
stolz gewesen ist. Er hat es gleichsam mit Bergen zu tun, die kein Glaube
allein mehr versetzen kann. Die absolute Freiheit, d.h. diejenige, die Wunder
zu vollbringen vermag, wird – übrigens zum ersten Mal – als Bestandteil des
Geistes abgeschafft. Der Marxismus tritt damit nicht nur in einen Gegensatz
zum Christentum, sondern zur idealistischen Freiheitskonzeption überhaupt,
für die ,das Sein nicht das Bewusstsein bestimmt’, sondern umgekehrt das
Bewusstsein oder die Vernunft das Sein bestimmt.“



Dennoch ist „dieser Bruch mit dem Liberalismus“ kein endgültiger: „Sich seiner gesellschaftlichen Situation bewusst zu werden bedeutete ja gerade für Marx selbst, sich von dem Fatalismus zu befreien, den diese mit sich bringt.“
Für den Rassismus der Nationalsozialisten wird dagegen das „Gefühl für den Leib“, der „Vertrauter als der Rest der Welt“ ist, zum „Herzstück“, das „Biologische“ beschreibt nun den „neuen Begriff vom Menschen“:

„Der Leib ist uns nicht nur näher und vertrauter als der Rest der Welt, und er
bestimmt auch nicht nur unser psychologisches Leben, unsere Stimmungen
und Handlungen. Jenseits all dieser alltäglichen Beobachtungen gibt es aber
auch das Gefühl der Identität. Werden wir uns nicht bereits in dieser
einzigartigen Wärme unseres Körpers offenbar, lange bevor das Ich, das sich
von ihm zu unterscheiden versucht, hervorbricht? Halten nicht jene Bande,
die, lange noch vor dem Erwachen des Geistes, aus dem Blut hervorgehen,
hier nicht jeder Prüfung stand?“


Und Lévinas folgert weiter:

„Die Bedeutung, die diesem Gefühl für den Leib zuerkannt wird – auch wenn
sich das westliche Denken damit nie anfreunden wollte – bildet die Grundlage
für einen neuen Begriff vom Menschen. Das Biologische und alles, was an
Unvermeidlichem damit zusammenhängt, wird dadurch zu mehr als nur einem
Objekt des geistigen Lebens; es wird dessen eigentliches Herzstück. Die
mysteriösen Stimmen des Blutes, der Ruf, der an das Erbe und die
Vergangenheit gemahnt und für die der Leib als rätselhaftes Sprachrohr dient,
treten nun nicht mehr in Gestalt von Rätseln auf, deren Lösung von einem
uneingeschränkt freien Ich abhängig ist. Denn auch das Ich kann bei der
Lösung dieser Rätsel nur wieder die Unbekannten ins Feld führen, aus denen
es ja selbst zusammengesetzt ist. Das Wesen des Menschen liegt nicht mehr
in der Freiheit, sondern in einer Art des Gefesseltseins. Wirklich selbst zu sein,
heißt nicht, sich noch einmal über die Kontingenz der Ereignisse, die auf
immer mit der Freiheit des Ich unvereinbar sein werden, zu erheben; es
bedeutet im Gegenteil, sich das ursprüngliche, unabweisbare und stets
einzigartige Gefesseltsein an unseren Leib bewusst zu machen und es vor
allem auch zu akzeptieren.

Folglich macht sich jeder gesellschaftliche Entwurf, der über den
menschlichen Leib hinwegsehen und ihn nicht einbeziehen will, verdächtig, die
menschliche Realität zu verleugnen oder zu verraten. Die modernen, auf der
Übereinkunft freier Willen basierenden Gesellschaftsformen erscheinen daher
nicht nur als brüchig und haltlos, sondern auch als heuchlerisch und verlogen.
Die Angleichung der Geister untereinander bringt den Sieg des Geistes über
den Leib um die Größe seines Triumphes. Sie gerät zu einem Werk von
Falschmünzern. Denn eine solche konkrete Gestaltwerdung des Geistes führt
auf direktem Wege zu einer Gesellschaft, die sich auf Blutsbande beruft. Nun
ja, wenn die Rasse nicht existiert, muss man sie eben erfinden!“


Und weit über den Wandel der Zeiten hinaus vorausschauend schreibt Lévinas:

„Mit diesem Ideal vom Menschen und der Gesellschaft geht zu gleich ein
neues Ideal des Denkens und der Wahrheit einher.

Das was die Struktur des Denkens und der Wahrheit in der westlichen Welt
charakterisiert, ist – wir haben es bereits hervorgehoben – die Distanz, die von
Anfang an den Menschen und die Welt der Ideen, aus der er sich seine
Wahrheit wählt, voneinander trennt. Frei und allein steht er dieser Welt
gegenüber. Er ist sogar in dem Maße frei, dass er es sich erlauben kann,
diese Distanz gar nicht zu überwinden und überhaupt eine Wahl zu treffen.
Der Skeptizismus stellt für das westliche Denken eine grundsätzliche
Möglichkeit dar. Selbst dann, wenn die Distanz überwunden und die Wahrheit
ergriffen wird, bewahrt der Mensch noch seine Freiheit. Er kann sich neu
ausrichten und noch einmal auf seine Wahl zurückkommen. Aber auch in der
erneuten Bekräftigung dieser Wahl schlummert schon wieder die Möglichkeit
ihrer künftigen Negation. Und dies ist gerade die Freiheit, die die eigentliche
Würde des Denkens ausmacht, aber in ihr liegt eben auch die Gefahr. Denn in
den Zwischenraum, der Mensch und Idee voneinander trennt, schleichen sich
Lüge und Täuschung ein.

Das Denken wird zu einem Spiel. Der Mensch findet Gefallen an seiner
Freiheit und will sich auf keine Wahrheit mehr endgültig festlegen. Seine
Fähigkeit zu zweifeln verwandelt sich in einen Mangel an Überzeugung. Sich
nicht an eine Wahrheit zu binden, bedeutet nun für ihn, sich als Person nicht
mehr für die Schaffung geistiger Werte einsetzen zu wollen. Aufrichtigkeit ist
zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden und macht Schluss mit jeder Art
von Heldenhaftigkeit. Die Zivilisation wird überschwemmt mit allem, was nicht
authentisch ist, mit Ersatzstoffen, die im Dienst der verschiedenen Interessen
und Moden stehen.

Einer Gesellschaft, die den lebendigen Kontakt zu ihrem wahren Ideal der
Freiheit verliert und nur noch deren Verfallsformen akzeptiert, die, anstatt zu
erkennen, dass dieses Ideal Anstrengungen erfordert, sich vor allem daran
erfreut, was ihr Bequemlichkeit verschafft – einer solchen Art von Gesellschaft
muss das germanische Ideal des Menschen wie ein Versprechen der
Aufrichtigkeit und Authentizität erscheinen. Der Mensch findet sich nicht mehr
einer Welt von Ideen gegenüber, aus der er durch die souveräne
Entscheidung seiner freien Vernunft sich seine eigene Wahrheit wählen kann
– er ist von jetzt an unweigerlich an einige dieser Ideen gebunden, so wie er
durch seine Geburt mit all denen verbunden ist, die vom selben Blut
abstammen. Er kann mit der Idee nicht mehr nur spielen, geht es in ihr, die
aus seinem konkreten Sein hervorgegangen ist und also in seinem Fleisch
und Blut verwurzelt ist, doch um eine ernste Sache. (…)

Jede rationale Angleichung oder mystische Gemeinschaft geistbegabter
Menschen, die nicht auf einer Blutsgemeinschaft basiert, gilt als suspekt.
Gleichwohl kann auch der neue Wahrheitstypus nicht auf die formale Natur
der Wahrheit verzichten und aufhören, universal zu sein. Die Wahrheit mag
noch so sehr meine Wahrheit im stärksten Sinne dieses Possessivpronomens
sein – sie muss dennoch die Erschaffung einer neuen Welt im Auge haben.
Zarathustra gibt sich nicht mit seiner Verwandlung zufrieden, er steigt vielmehr
vom Berg herab und bringt eine Frohe Botschaft. Wie lässt sich die
Universalität mit dem Rassismus vereinbaren? Möglich ist dies nur dann – und
auch ganz entsprechend der Logik, aus der der Rassismus seine
ursprünglichen Impulse erhält –, wenn die Idee der Universalität selbst
grundlegend modifiziert wird. Sie muss ihren Platz der Idee der Expansion
überlassen, denn die Ausbreitung einer Macht weist eine völlig andere
Struktur auf als die Verbreitung einer Idee.

Eine Idee, die sich verbreitet, löst sich von ihrem Ausgangspunkt ab, und zwar
ihrem Wesen nach. Sie wird zu einem Allgemeingut, trotz des
unverwechselbaren Akzents, der ihr durch denjenigen verliehen wird, der sie
hervorgebracht hat. Denn im Grunde genommen ist sie anonym. Derjenige,
der sie sich zu Eigen macht, wird in gleicher Weise Herr über sie wie
derjenige, der sie ins Spiel gebracht hat. Die Verbreitung einer Idee bringt also
eine Gemeinschaft von ,Herren’ hervor – es ist ein Prozess der Gleichstellung.
Seine eigene Meinung ändern oder jemanden überzeugen heißt nichts
anderes, als eine Gemeinschaft Gleichgestellter zu schaffen. Die Universalität
einer Ordnung in der westlichen Gesellschaft spiegelt immer auch diese
Universalität der Wahrheit wider.

Die Macht hingegen zeichnet sich durch eine andere Art der Ausbreitung aus.
Wer sie ausübt, hält an ihr fest. Die Macht verliert sich nicht unter denjenigen,
die ihr unterworfen sind. Sie bleibt an die Person oder die Gesellschaft
gebunden, die sie ausübt; sie vergrößert sie, indem sie ihnen den Rest
unterwirft. Die universale Ordnung stellt sich hier nicht als Folgeerscheinung
einer ideologischen Expansion ein – es ist diese Expansion selbst, die die
Einheit einer Welt von Herren und Sklaven hervorbringt. Nietzsches Wille zur
Macht, den das heutige Deutschland wiederentdeckt und glorifiziert, ist nicht
nur ein neues Ideal; es ist ein Ideal, das seine eigene Form der
Universalisierung gleich mitliefert: nämlich den Krieg und die Eroberung. (…)

Was auf dem Spiel steht, ist nicht dieser oder jener Glaubenssatz der
Demokratie, des Parlamentarismus, eines diktatorischen Regimes oder einer
religiös eingefärbten Politik. Es geht um die Menschlichkeit des Menschen
selbst.“


Emmanuel Lévinas:
Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte
Verlag Karl Alber, Freiburg 2006, 183 S.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Samstag, 29. April 2023

75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

"Es geht um die Menschlichkeit des Menschen selbst"
(Emmanuel Lévinas, 1934)

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