"Bewegung und Stillstand"
Dieses Fazit ziehen die Experten über das deutsche Bildungssystem im Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2014“. So verlässt jeder 10. Schüler/in im Laufe der Jahrgangsstufen 5 bis 9 durch Abbrüche oder Wechsel auf andere Schulen das Gymnasium. Die Folge: Die Zahl der Schüler/innen an weiterführenden Schulen steigt und somit die Klassenstärken. Auch der von der EU geforderte Inklusionsprozess kommt nur schleppend voran: Das Schild „Inklusion“ an der Schule reicht nicht, wenn Mittel und Personal fehlen.
Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli spricht die finnische Bildungsexpertin Armi Mikkola, Ministerialrätin im Unterrichtsministerium Finnlands, über das „Besondere“ des finnischen Bildungssystems.
Frau Mikkola in Deutschland wird seit den ersten PISA-Ergebnissen viel über das gute Abschneiden Finnlands diskutiert. Vergleiche sind zwar immer gewagt und problematisch, insbesondere da sich in diesem Fall z. B. schon die Einwohnerzahl von 5 Millionen in Finnland gegenüber 80 Millionen in Deutschland bewegt. Trotzdem die Frage, wo sehen Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen dem deutschen und finnischen Bildungssystem?
Ich kenne das deutsche Bildungssystem nicht genug, als dass ich die Unterschiede ganz genau einschätzen könnte. Der wesentliche Unterschied ist vielleicht der, dass im finnischen Bildungssystem im Laufe der Gemeinschaftsschulzeit (1. – 9. Jahrgang) keine Auswahl oder Aufteilung der Schüler vorgenommen werden, die die Wahlmöglichkeiten in ihrem weiteren Bildungsweg beeinflussen. Die Gemeinschaftsschule ist für jeden Jahrgang einheitlich. Mein Eindruck ist, dass die kindliche Früherziehung und die Gemeinschaftsschule in Finnland Inklusion stärker betonen als die deutschen Schulen. Bezüglich des Ansehens der Lehrerausbildung und des Lehrerberufs scheinen dahingehend Unterschiede zu bestehen, dass beide von finnischen Jugendlichen als interessanter und attraktiver betrachtet werden als von deutschen Jugendlichen.
Welche Schwerpunkte werden in der Lehrerausbildung in Finnland gesetzt?
Die Anforderungen an die berufliche Eignung werdender Lehrer können in vier Gebiete unterteilt werden: das Fachwissen des Lehrfaches oder -gebietes, Lern- und Lehrkompetenz, soziale und ethische Eignung sowie das Beherrschen der praktischen Arbeit in der Schule. Diese Gebiete sind nicht voneinander unabhängig, sondern sind in der finnischen Lehrerausbildung auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Ein Lehrer ist ein vielseitiger Wissens-Experte, der über eine umfassende Auffassung der ganzheitlichen Aufgabe von Erziehung und Ausbildung verfügen muss. Die finnische Lehrerausbildung basiert auf ihrer Erforschung. Das Ziel besteht darin, vielseitige Lehr- und Lernexperten auszubilden, die ihre eigene Arbeit und die ihrer schulischen Arbeitsgemeinschaft in Kenntnis des aktuellen Forschungsstandes weiterentwickeln und sich neue fachliche Inhalte aneignen und zu nutzen verstehen. Beispielsweise werden neue Lehrtechniken, Fragen der Multikulturalität, die Beteiligung und die Partizipationsmöglichkeiten der Schüler sowie die Begegnung mit der Vielfalt der einzelnen Lernenden und deren Unterstützung betont.
Wird die pädagogische Eignung vor der Aufnahme des Studiums getestet, wenn ja, wie?
Ja, sie wird getestet. Ein Teil der Auswahl besteht in der Einschätzung von Eignung und Motivation. Diese wird auf unterschiedliche Art festgestellt, denn die Universitäten in Finnland entscheiden autonom über ihre jeweiligen Auswahlmethoden. Unter anderem kommen Einzel- und Gruppengespräche, betreute Arbeitsgruppen, betreute Lehrsituationen und psychologische Tests dabei zur Anwendung.
Wie groß sind die Klassenstärken an finnischen Schulen?
Die durchschnittliche Klassengröße der Gemeinschaftsschulen betrug 2013 in den Stufen 1-6 19,7 Schüler/innen und in den Stufen 7-9 16,5 Schüler/innen.
Frau Mikkola wir danken Ihnen.
Vita: Armi Mikkola
Armi Mikkola M.A., Ministerialrätin, ist seit 1996 beim Unterrichtsministerium Finnlands tätig – dort in der Abteilung für Hochschulen für die Lehrausbildung verantwortlich, darunter auch für die Praktikumsschulen der Universitäten/Hochschulen und die nordische Zusammenarbeit. Sie ist Mitglied und Leiterin verschiedener Arbeitsgruppen zu Themen wie Lehrerbedarf, Bildung von sprachlichen Minderheiten, Studienberatung und Bildungsevaluation. Zuvor übte sie u. a. eine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Helsinki in der Ausbildung von Lehrern und Schulleitern aus. Armi Mikkola ist Autorin zahlreicher Artikel zu den Entwicklungsbedürfnissen von Bildungseinrichtungen, zur Weiterbildung und Ausbildung von Lehrern sowie zur Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnik im Bildungsbereich.
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