Der versperrte Weg

Buchbesprechung

Ein winziger Stein erzeugt oft große Wellen. In diesem Fall war es die Frage des Verlegers Thedel von Wallmoden an Georges-Arthur Goldschmidt nach seinem älteren Bruder Erich. Für den heute 93-jährigen deutsch-französischen Autor war es eine „aufwühlende, bis dahin sorgfältig vermiedene Frage: vielleicht, weil man sich, alleine durch die Tatsache, dass man noch da war, lebensschuldig fühlte.“ Seine Antwort findet sich in dem 111 Seiten umfassenden kleinen Büchlein „Der versperrte Weg“, erschienen im Wallstein Verlag. Offen und ehrlich lässt Goldschmidt nach all den Jahren des eigenen Verdrängens – „nach über 80 Jahren wird die Erinnerung unsicher“– in das Verhältnis der beiden Brüder zueinander blicken, Brüder, deren Leben nicht gegensätzlicher hätten sein können.

(Quelle Buchcover: Wallsteinverlag)

Erich Goldschmidt wird 1924 in Reinbeck in Holstein geboren; er ist ein nach mehreren Fehlgeburten lang ersehntes Wunschkind der Eltern. Vier Jahre später, im Mai 1928 wird sein kleiner Bruder Jürgen-Arthur geboren, und Erich, der kleine Kronprinz „hatte nun nicht mehr die Welt für sich alleine, alles, was sich ihm zum Greifen, zum Rollen, zum Schieben, zum Ziehen anbot, war nun in Gefahr, plötzlich von dem Schreibündel unterbrochen zu werden, denn es war laut, schrill, es brüllte, keifte, heulte ununterbrochen.“ Betroffen und verzweifelt verstand der Ältere sehr schnell, dass er nun immer weniger auf den alleinigen Schutz der Eltern zählen konnte, „so schloss er sich in sich selber ein und machte alles, wie man es von ihm erwartete: bloß nicht auffallen – jeder sollte sofort merken, dass man ihm vertrauen konnte. Glatt und unerreichbar brachte er sich selber in Sicherheit. […] Alles war Enttäuschung für ihn und er zog sich in sich selber zurück.“

Mit dem Sieg der Nationalsozialisten kommt der nächste große Bruch im Leben des Jungen. Seit Oktober 1934 durfte der Vater, Oberlandesgerichtsrat in Hamburg, im Zuge der „Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums“ nicht mehr seiner Arbeit nachgehen, blieb tags zu Hause und begann zu malen. Und Erich musste erleben, dass er plötzlich immer öfter ausgegrenzt wurde, Zurufe wie „Du Judensau“ oder „eine Schande, dass es dich gibt“, konnte er nicht verstehen, steigerten die inneren Wirren und Konflikte und drängten zu der Frage, ob er die falschen Eltern habe. Was war mit dem „Nicht-Arischen“ gemeint, was hatte er mit „Juden“ zu tun, er war evangelisch getauft? Er, der schon beim Spiel mit seinen Bleisoldaten „Ich hatt’ einen Kameraden“ sang, der „wie jeder überzeugt war, dass ein Deutscher alles besser kann als alle anderen Völker“; er, der ein ausgezeichneter Schüler war und noch 1937 davon träumte, in die Fußstapfen des Vaters zu treten und Richter zu werden; doch warum durfte er das Gymnasium nicht mehr besuchen, warum wurde gerade ihm die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend verwehrt?

Georges-Arthur Goldschmidt
Georges-Arthur Goldschmidt (Foto: Hans Peter Schaefer, www.reserv-a-rt.de)

Das Schlimmste vorausahnend schicken die Eltern die beiden Söhne 1938 zu einem befreundeten Ehepaar nach Italien, als auch dort ihre Sicherheit bedroht ist, fliehen sie nach Frankreich. Zunächst sind sie in einem katholischen Internat untergebracht, als die Nazis auch in Frankreich einmarschieren, wird Jürgen-Arthur bis zur Befreiung von Bauern versteckt; Erich, der große Bruder, kommt durch Pfarrer Luc Ravanal, der Fluchtwege für Verfolgte organisiert, in Kontakt mit der Résistance; er schließt sich, nun schon 18 Jahre alt, der französischen Division der Alliierten-Streitkräfte an und ist als französischer Soldat an der Befreiung von Paris beteiligt wie auch an der Befreiung des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof im Elsaß. Im Kampf und Einsatz für Frankreich, für „das Französische, das ihn geschützt hatte“, wendet sich „die Lebensangst“ um. Der Ältere, der „Deutscher bis in die letzte Faser seines Wesens“ war, über den der jüngere Bruder schreibt: „Das Deutsche war das Fundament seiner Selbstheit“, sucht diesen Zufluchtsweg, seine innere Verletztheit und Zerrissenheit zu verdrängen. Die Uniform wird Erichs „Ausweg zum Selbstverlust“. Nach dem Krieg meldete er sich zur Fremdenlegion, nahm 1954 an der Schlacht von Dien Bien Phu in Indochina teil, kämpfte als Major in der französischen Kolonialarmee gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Algerier und beteiligte sich 1961 an dem Putsch der Generäle gegen de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entließ. Nach der Pensionierung als Offizier wurde er Kassierer bei der Bank Crédit Agricole. Endlich dann, einige Monate vor seinem Tod, erweist ihm Frankreich die langersehnte Zugehörigkeit: 2011 wird Erich Goldschmidt der höchste französische Verdienstorden die Ehrenlegion verliehen.

„Der versperrte Weg“, den Georges-Arthur Goldschmidt auch als „Roman des Bruders“ bezeichnet, ist eine berührende Liebeserklärung an den älteren Bruder, der gequält und zerrissen von abgrundtiefer Heimatlosigkeit und „unheilbaren Seelenschmerzen“ immer wieder in Gefahr war, sich zu verlieren, während der Jüngere nach der Vertreibung aus Deutschland das Glück hatte, in der Liebe zur Sprache und im Schreiben seine neue Heimat zu finden. So feinfühlig und klar der Autor erzählt und in diese Tiefen der kindlichen und jugendlichen Gefühlswelt führt, so bewegt, beschämt und erschüttert folgt der Leser diesem „versperrten“ Weg, und dabei drängt sich auch ihm Erich Goldschmidts Frage auf: „Warum bin ich gerade der, der ich bin?“


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Freitag, 19. November 2021

Der versperrte Weg

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