Erzählen lernt nur, wem auch erzählt wird.

Gespräch mit Prof. Merkel

„… wenn Kinder Mängel in ihrer Sprachentwicklung zeigen, liegt es meist schlicht daran, dass mit ihnen nicht ausreichend und nicht angemessen gesprochen wird.“, erklärt der Autor und Professor für Vorschulpädagogik Johannes Merkel.

30 Jahre lehrte und forschte er an der Universität Bremen u. a. auf dem Gebiet der Spracherziehung im Elementar- und Primarbereich sowie des Erzählens für Kinder. Eine besondere „Schatzkiste voll mit Geschichten“ und Informationen zu historischen Erzählkulturen findet sich in „Merkels Erzählkabinett“ im Internet.

Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli versucht Prof. Merkel, den Grund für manch verbreitete „Beobachtung“ im Entwicklungsprozess des Sprech- und Leseverhaltens von Kindern zu klären.

Prof. Merkel

Prof. Merkel beim Erzählen der Geschichte von den anhänglichen Pantoffeln in einer Schulklasse.

Herr Prof. Merkel, die AOK kommt in ihrem letzten Heilmittelbericht zu dem Schluss, dass fast 25 % der sechs-jährigen Jungen sprachtherapeutische Unterstützung brauchen, bei den Mädchen sieht es etwas besser aus. Wo sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung?

Ich rate, solche pauschalen Untersuchungsergebnisse mit Vorsicht zu betrachten. Um sie einzuschätzen, müsste man sich erst ansehen, wie sie zustande kamen und warum „sprachtherapeutische Unterstützung“ die Probleme beseitigen sollen.
Vor allen therapeutischen Maßnahmen ist zu beachten: Sprache wird über das Sprechen mit vertrauten Bezugspersonen gelernt, und wenn Kinder Mängel in ihrer Sprachentwicklung zeigen, liegt es meist schlicht daran, dass mit ihnen nicht ausreichend und nicht angemessen gesprochen wird. Die alltägliche Kommunikation beschränkt sich oft auf Anweisungen und Erklärungen. Kinder holen sich dann die Erzählungen, die sie brauchen, aus den kommerziellen Medienangeboten.

Inwiefern kann eine bessere Erzählkultur in der Familie, Kita und Grundschule diesem Trend begegnen?

Verdonnern Sie niemanden dazu zu erzählen, um die Sprachbeherrschung zu verbessern oder sonst einem „Trend“ zu begegnen! Erzählen heißt, etwas mitzuteilen, was sich nicht hier und jetzt in unserer Gegenwart abspielt, sondern dort und damals in der erzählten Welt abgespielt habe. Entscheidend dabei ist, dass Eltern, Erzieherinnen, Lehrer oder wer immer, sich mitteilen und diese andere Verständigung mit den Mitmenschen genießen möchten, die sich zwischen Erzählenden und Zuhörenden einstellt. Für Kinder ist festzuhalten: Ähnlich wie Sprache nur im Umgang mit sprechenden Menschen erworben werden kann, müssen Kinder diese Weise sprachlicher und spielerischer Verständigung mit ihren Betreuern erfahren und übernehmen. Erzählen lernt nur, wem auch erzählt wird. Diese Erfahrung legt den Grundstein für das Verständnis und die Verarbeitung literarischer und medialer Erzählungen.

Erfreulicherweise werden in vielen Familien Geschichten vorgelesen und Bilderbücher betrachtet. Hat das „Erzählen“ eine andere Wirkung für die Sprachförderung als das Vorlesen? Welche Gewichtung geben Sie den beiden Formen?

Lesegeschichten oder Bilderbücher sind mediale Erzählungen, nicht anders als Fernsehsendungen oder Computerspiele. Sie sind nicht per se bildender oder fördern die Sprachbeherrschung, nur weil Erziehende sie präsentieren. Medienerzählungen erfolgen in den für das Medium jeweils bezeichnenden Formsprachen, das gilt auch für literarische Erzählungen allgemein und die Kinderliteratur im Besonderen. Ihr Verständnis setzt Grunderfahrungen voraus, die erst ermöglichen, sie zu durchschauen und zu verarbeiten. Diese Ordnungsstrukturen (Storyschema, episodisches Gedächtnis z.B.) werden am einfachsten beim mündlichen Erzählen angeregt und angelegt, das dem zwischenmenschlichen Gespräch (als der entscheidenden Voraussetzung für den primären Spracherwerb) noch sehr nahe steht. Diese Muster werden allmählich auch über das Vorlesen einfacher Geschichten übernommen, wie es in so genannten „bildungsnahen“ Familien üblich ist, auch hier ist das Medium aber nur ein „Mittel“, intensiver wirkt aber das unvermittelte und personale Erzählen. Bilderbücher haben den Vorteil, dass der Lesetext stets vom Gespräch über die Bilder unterbrochen wird, Textlesung und Gespräche sich abwechseln, darüber offen für Ideen und Fragen bleiben. Im Übrigen lehrt der historische Blick, sich mit den verbreiteten pädagogischen Vorurteilen gegen mediale Erzählungen zurückzuhalten: Nach dem Aufkommen der Kinderliteratur Ende des 18. Jh.s warnten die Pädagogen vehement vor einer bedenklichen „Lesewut“ der Jugend, die wir heute mit umfangreichen pädagogischen Maßnahmen und vielen hehren Begründungen anzustacheln suchen.

Wie sieht es für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, aus?

Kinder mit anderer Muttersprache „lernen“ nicht Deutsch als Zweitsprache (das ist die Perspektive der Förderkurse), sondern sind gezwungen es zu sprechen, um sich in ihrer Umgebung verständlich zu machen und die Schule zu bestehen. Wie sehr sie dazu angeregt werden und sich perfektionieren können, hängt, nicht anders als beim Erstspracherwerb, in erster Linie davon ab, wie viel und wie angemessen mit ihnen gesprochen wird. Förderkurse können sie dabei etwas unterstützen, sind aber nicht mehr als der heiße Tropfen auf den Stein.
Auch das Hören von Erzählen ist keine Wunderwaffe, um ihnen Deutsch beizubringen, aber es bietet ihnen zwei wichtige Anregungen.
Erstens: Die ständigen Wiederholungen, die mündliches (im Gegensatz zum schriftlichen) Erzählen kennzeichnet, die so genannten „Formeln“, erleichtern es, sich unbekannten Wortschatz und Satzkonstruktionen anzueignen. Um die fremde Handlung einer Geschichte nachvollziehbar und vorstellbar zu machen, sind Erzähler gezwungen, Begriffe und sprachliche Konstruktionen zu verwenden, die in der alltäglichen Verständigung kaum vorkommen. Sie müssen sich dazu auch immer wieder einer „literalen“ Diktion bedienen.
Andererseits beobachten sie ihre Zuhörer und werden darauf eingehen, sobald sie nicht mehr recht verstanden werden. Das muss man nicht lernen, das macht jeder Erzählende, sofern er mit seinem Publikum im Kontakt ist. Beim Vorlesen kann der Text keine Rücksicht auf das Hörverstehen nehmen. Dazu kommt die körperliche Darstellung des Erzählers, die die erzählten Handlungen bereits andeuten und darum auf die sprachliche Formulierung verweisen, die aber das „Rätsel“ der Geste erst aufzulösen vermag. Anders als eine im 19.Jh. geprägte Literaturpädagogik immer noch behauptet, lenkt gestisches Erzählen nicht von der Sprache ab, sondern führt darauf hin. Vorlesen, um ihre „Sprachkompetenzen“ zu verbessern, kann bedenkliche Folgen für zweisprachige Kinder haben, die, weil sie nicht genug verstehen, Vorlesen mit Langeweile verbinden, ein Vorurteil, das dann schwer auszuräumen ist.
Zweitens: Regelmäßiges Hören von Erzählungen lässt Strukturen und Bauformen von Geschichten nachvollziehen, deren Verständnis und Übernahme erlaubt, selbst Erzählungen zu formulieren und später auch zu schreiben. (Nicht zufällig heißt die erste Aufsatzart in der Schule, eine Geschichte zu schreiben).
Lebendiges mündliches Erzählen stellt also sozusagen eine Brücke zwischen der alltäglichen Sprachverwendung und der literalen Ausdrucksweise geschriebener Literatur dar, insofern kann es das Umgehen mit literarischen Erzählungen erleichtern, für zweisprachige Kinder ebenso wie für deutsche Muttersprachler.

Für viele Kinder gehören Hör-CDs inzwischen zum Standard? Was halten Sie von dieser medialen Erzählweise?

Hörspiele haben den Vorteil, dass sie von Kindern selbst bedient und immer wieder gehört werden. Über das wiederholte Hören schleifen sich Bezeichnungen und ganze Textteile ein, die durchaus als Vorlagen für eigene Formulierungen dienen können. Sind sie gut gemacht (was leider für den Großteil der kommerziellen Medien wenig zutrifft), dann können sie auch das Verständnis der Grundstrukturen von Geschichten verankern, ähnlich wie beim regelmäßigen Vorlesen der Gutenachtgeschichte.

Die Realität zeigt, dass selbst junge „Leseratten“ oft in der Schule ihre Freude am Lesen und am Buch verlieren. Wie ist das zu erklären?


Ich weiß nicht, welche „Realität“ das zeigt. Die Formulierung scheint mir in sich widersinnig. Ich denke, zu „Leseratten“ können Kinder erst werden, sofern sie in der Schule lesen lernten. Im Übrigen ist die „Freude am Buch“ kein Wert an sich, ebenso wenig wie eine „Freude am Fernsehen“ (das man dann gerne als Sucht abwertet). Es kommt immer noch darauf an, was gelesen oder ferngesehen wird, und vor allem, ob und wie es verarbeitet werden kann.

Sie haben inzwischen Jahrzehnte lange Erfahrungen gesammelt, wie könnte ein „Königsweg“ aussehen, um einen Verlust an Motivation aufzuhalten?

Auf einen irgendwie gearteten „Königsweg“ sollten wir verzichten, er wird sich doch innerhalb weniger Jahre wieder als Holzweg erweisen. Mit solchen Allheilmitteln ist die Geschichte der Pädagogik gepflastert. Auch lebendiges Erzählen ist kein Wundermittel, um von angeblich objektiven Untersuchungen festgestellte „Sprachdefizite“ zu beheben. Aber der begeisterte, von seiner Geschichte bewegte Erzähler kann den Spaß und die Lust anregen, den eigenen Erinnerungen, Träumen und inneren Bildern in den Geschichten zu begegnen und die Fähigkeit anregen, sie früher oder später selbst mitzuteilen. Auf diese Erfahrungen kommt es an, und je überzeugender und nachhaltiger sie gemacht werden, desto eher werden sie en passant auch die sprachlichen Fähigkeiten fördern und entfalten.


Herr Prof. Merkel wir danken Ihnen.

Vita: Prof. Dr. Johannes Merkel

Prof. Dr. Johannes Merkel promovierte 1971 an der Universität Freiburg und war von 1971 – 1976 freiberuflich als Autor von Kinderbüchern, Kindertheater und Kinderfernsehen tätig. Von 1977 – 2007 war er Professor für Vorschulpädagogik mit dem Schwerpunkt Kindermedien im Studiengang Sozialarbeitswissenschaft der Universität Bremen.
Seine wissenschaftlichen Arbeitsgebiete sind:
- Sozialisation und kindliche Entwicklung
- Erzählen für Kinder (Theorie des mündlichen Erzählens, Erzählkurse an der Universität und in der Weiterbildung)
- Bildung im Elementarbereich (Redaktion des Rahmenplans Bildung und Erziehung im Elementarbereich im Land Bremen)
- Spracherziehung im Elementar- und Primarbereich
- 2004 – 2007 Projekt zur Sprachförderung von zweisprachigen Kindern durch Erzählen (Teil des bundesweiten FÖRMIG-Projektes)
Er publizierte u. a.
- Die Sprache der inneren Welt. Spielen – Erzählen – Phantasieren, München 2000 (Neuauflage Bremen 2007)
- Gebildete Kindheit. Wie die Selbstbildung von Kindern gefördert wird, Bremen 2005
- Hören, Sehen, Staunen. Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens, Hildesheim 2014 (erscheint bis August)
sowie die Internetseite mit erzählbaren Geschichten und Aufsätzen über das Erzählen: Merkels Erzählkabinett www.stories.uni-bremen.de

Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Donnerstag, 24. April 2014

Gespräch mit Prof. Merkel

Erzählen lernt nur, wem auch erzählt wird.


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