Dr. Georg Ruppelt im Interview
In Hannover, der Stadt in der Gottfried Wilhelm Leibniz bis zu seinem Tode gelebt hat, wird der Leibniz-Sommer gefeiert. Dahinter steckt die Idee, Werk und Leben dieses großen Universalgelehrten bekannter zu machen.
"Mit aus der Taufe gehoben" hat diese Idee Dr. Georg Ruppelt. Er ist Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek und Gründer der Akademie für Leseförderung. Seinem Einsatz ist es auch zu verdanken, dass die Leibniz-Korrespondenz von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde. Anlass für Renate Müller De Paoli ein Interview mit Doktor Georg Ruppelt für Convivio mundi e.V. zu führen:
CM: Herr Doktor Ruppelt, die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek besitzt einen besonders wertvollen, außergewöhnlichen Bestand, die Korrespondenz ihres Namensgebers, die zu seinem 200.000 Blatt (!) umfassenden Nachlass gehört. Nun ist diese Korrespondenz im letzten Jahr von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärt worden. Wie lange haben Sie um diese bedeutsame Anerkennung gerungen? Wie haben Sie die internationalen Gremien überzeugen können? Gibt es weltweit andere Bibliotheken, die solche Auszeichnungen bekommen haben?
Dr. Ruppelt: In der Tat war dies keine leichte Aufgabe. Ich hatte die Idee bereits 2003. Mein Ziel seit meinem Dienstantritt 2002 war es von Anfang an, Leibniz wieder stärker in das Bewusstsein auch einer nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu heben. Allzu viele Menschen, auch Hannoveraner, verbinden mit seinem Namen leider nur eine Backware.
Wir haben dann 2003 sehr ausführliche Anträge an die Deutsche UNESCO-Kommission gestellt. Die Entscheidung für einen deutschen Antrag unter dem Namen Leibniz fiel dann gegen eine Reihe von Konkurrenz-Anträgen 2005. Das war schon einmal ein großer Erfolg, und die Medien berichteten auch entsprechend. Dann war es aber noch ein langer Weg, bis sich die UNESCO 2007 auf ihrer Tagung in Praetoria für unseren mehrfach überarbeiteten Antrag entschied. Dazwischen lagen Hoffen und Bangen, denn es kamen Nachfragen, die wir zu beantworten hatten. Sehr hilfreich war dann ein Unterstützungsschreiben der Universität von Beijing.
Es gibt insgesamt 358 Einträge weltweit, davon zehn deutsche. Zu den deutschen Dokumenten gehören u. a. Beethovens 9. Symphonie aus der Staatsbibliothek zu Berlin, Grimms Hausmärchen aus der Murhardschen Bibliothek in Kassel, die Reichenauer Handschriften in den Staats- bzw. Landesbibliotheken in München und Stuttgart und Gutenbergs 42-zeilige Bibel in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
CM: Weltdokumentenerbe bedeutet nicht nur Auszeichnung, sondern auch Verpflichtung. Welche besonderen Schritte sind und müssen eingeleitet werden, um den Briefwechsel aufzubereiten und für die kommenden Generationen zu bewahren? Welche Auswirkungen hat das auf die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek?
Dr. Ruppelt: Es bedeutet für unsere Bibliothek, dass wir noch größere Anstrengungen unternehmen werden, um Leibniz' Nachlass und natürlich vor allem seine Briefe zu schützen, zu erschließen und sie der Welt via moderner Datentechnik zugänglich zu machen. Es wurde dafür ein Masterplan erstellt, der schon Teil des Antrages war.
CM: Werden für Ihre Arbeit jetzt auch größere finanzielle Mittel bereitgestellt?
Dr. Ruppelt: Wir werden bei diesen Aufgaben intensiv unterstützt vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur; aber auch die DFG, die VGH und die VGH-Stiftung haben schon großzügig Mittel bereitgestellt.
CM: Wer sind die wichtigsten Briefpartner von Leibniz, in welchen Sprachen korrespondierte er mit ihnen?
Dr. Ruppelt: Wie kaum ein anderer Gelehrter war Leibniz ein Mann der Kommunikation und der Vernetzung. Er stand mit rund 1.100 Briefpartnern aus vielen sozialen Schichten und in ganz Europa in Kontakt. Das briefliche Gespräch war ein wichtiger Teil seiner Lebensform. Seine Briefe spiegeln die Internationalität seines Denkens schon in der Sprache wider; rund 40 % sind im internationalen Latein der Gelehrten, rund 30% in Französisch, rund 15 % in Deutsch verfasst, hinzu kommen einzelne Texte in Englisch, Italienisch und Niederländisch. Um nur einige Namen aus der Brief-Sammlung zu nennen: Huygens, Newton, Scarlati, Fabricius. Doch auch die preußische Königin Sophie Charlotte, die Herzogin von Orléans „Liselotte von der Pfalz“, die hannoversche Kurfürstin Sophie oder die spätere Prinzessin von Wales, Caroline von Ansbach, gehörten zu seinen Korrespondenzpartnerinnen.
Leibniz' Bemühungen um Harmonie, Kommunikation, Austausch und Vermittlung zwischen den Nationen, Kulturen und Religionen wird auch in seiner Korrespondenz mit Jesuiten deutlich, die mit Erlaubnis des chinesischen Kaisers als Missionare in China tätig waren. Leibniz beschwor die Missionare, auf ein wechselseitiges Geben und Nehmen hinzuarbeiten; die Missionare sollten großen Wert darauf legen, von der chinesischen Kultur und Wissenschaft zu lernen. Er schlug vor, dass junge Chinesen nach Europa kommen und die Europäer unterrichten sollten. In ähnlichem Sinne bedauerte er, dass das Studium der arabischen Sprache in Europa zu wenig betrieben werde.
CM: Seit 3 Jahren, glaube ich, wird in Hannover, wo Leibniz fast 40 Jahre bis zu seinem Tod gelebt hat, der Leibniz-Sommer gefeiert - eine gute Idee, um die Konzepte dieses einzigartigen Universalgelehrten in die Öffentlichkeit zu tragen. Wie ist die Bibliothek in diese Feierlichkeiten und Aktivitäten eingebunden?
Dr. Ruppelt: Unsere Bibliothek hat die Idee des Leibniz-Sommers wesentlich mit aus der Taufe gehoben und ihn von Anfang an auch entscheidend mitgestaltet. Wir selbst haben uns beispielsweise mit Ausstellungen, Vorträgen, Lesungen, Buchvorstellungen und Leibniz-Medaillen in den Sommer eingebracht.
CM: Es scheint oft, dass Leibniz in vielen Ländern bekannter ist als in Deutschland? Teilen Sie diese Einschätzung? Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Dr. Ruppelt: Ich teile Ihre Meinung. Den Grund dafür weiß ich natürlich auch nicht. Könnte es vielleicht sein, dass in anderen Ländern Naturwissenschaft und Technik, vielleicht auch die Philosophie, ein höheres Ansehen haben als bei uns? Außerdem ist Leibniz in einer Event- und Skandalkultur schwer zu vermarkten. Er hat eben wirklich innovativ, nachhaltig, zukunftsträchtig gedacht und gehandelt. Ein Mann aus der Vergangenheit, der unserer Gegenwart und der Zukunft noch viel zu sagen hat: Ein Anreger, aber eben kein Aufreger für den Werkeltag.
CM: Herr Doktor Ruppelt, seit Jahren sind Sie engagiert in der Stiftung Lesen, waren zeitweilig auch Präsident der Stiftung. Sehen Sie in der Leseförderung einen Weg der schleichenden „Sprachlosigkeit“ unserer Zeit zu begegnen. Was ist die Idee? In welchem Alter setzen Sie an?
Dr. Ruppelt: Leseförderung wirkt heute ganz selbstverständlich. Aber das war nicht immer so. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich vor vielleicht fünf oder sechs Jahren für die Stiftung Lesen in zahlreichen Veranstaltungen auf die Notwendigkeit von Leseförderung hingewiesen habe. Und wie oft bin ich belächelt worden. Es war eine bittere Erfahrung, als altmodisch eingestuft zu werden, als der modernen Zeit, den modernen Medien nicht zugewandt. Was aber war der Grund für manch arrogante oder gar hämische Bemerkung dieser Art?
Vielleicht lag es daran, dass wir Leseförderer unbeirrt und leidenschaftlich appellierten, Kinder und Jugendliche fit für die Zukunft zu machen. Als unabdingbar dafür nannten wir die Fähigkeit des verstehenden Lesens. Dabei ging es uns natürlich keineswegs um die Verteufelung der audiovisuellen Medien. Aber wir konnten nachweisen, dass die Voraussetzung für Medienkompetenz die Lesekompetenz ist, ohne die niemand in unserer hoch technisierten Gesellschaft seinen Platz finden kann.
Der Schock von Pisa, Iglu und anderen Untersuchungen hat einen deutlichen Bewusstseinswandel in der Öffentlichkeit bewirkt. Nachdem die Phase der gegenseitigen Beschimpfungen im Anschluss an die Pisa-Veröffentlichungen abgeklungen war, stellte man fest, dass Bildung und Leseförderung sehr viel, aber nicht nur etwas mit Schule zu tun haben. Man stellte fest, dass Leseförderung auch eine außerschulische und vor allem eine vorschulische Aufgabe ist. Mit der Leseförderung kann man nicht früh genug anfangen. Das Projekt „Buchstart“ etwa bringt in Zusammenarbeit mit den Kinderärzten Anregungen zum Lesen an die Eltern und deren Babys.
Vorlesen ist in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Kindes das Wichtigste, was man für die Sprachentwicklung und die Grundlegung einer lebenslang stabilen Beziehung der Heranwachsenden zu Büchern, Zeitungen und Zeitschriften tun kann. Hirnforscher weisen darauf hin, dass nach Erkenntnissen der Neurowissenschaften Verbindungen zwischen den Nervenzellen in sensiblen Phasen der kindlichen Entwicklung durch Nutzung bestätigt werden müssen, weil sonst die angelegten neuronalen Möglichkeiten verloren gehen. Es öffnen sich Zeitfenster, in denen man Lesen lernen muss, Lesen trainieren muss. Wenn sich diese Fenster schließen, wird das Lesenlernen schwierig.
Was vor der Einschulung in Bezug auf Leseförderung geschieht, ist prägend für das Leseverhalten der Kinder und Jugendlichen. Leserkarrieren werden vor der Schule entschieden!
CM: Welche Erfolge haben Sie zu verzeichnen?
Dr. Ruppelt: Die 2004 vom Kultusministerium, dem Wissenschaftsministerium und der Stiftung Lesen an unserer Bibliothek gegründete Akademie für Leseförderung ist eine große Erfolgsgeschichte. In den vergangenen vier Jahren haben die hier tätigen Pädagoginnen und Pädagogen u. a. Tausende in Leseförderung fortgebildet. Es gab aber auch z. B. folgende Aktionen: Um die Bedeutung des Vorlesens im öffentlichen Bewusstsein deutlich herauszustreichen, haben wir mit der Aktion Prominente lesen vor seit zwei Jahren ein großes Publikum erreicht. Niedersächsische Landtagsabgeordnete und fast das gesamte Kabinett liest an ungewöhnlichen Orten, aber natürlich auch in Bibliotheken. Zum Tag des Buches war der Ministerpräsident bereits sechsmal „in unserem Auftrag“ unterwegs. Ich selbst habe mehrfach in einer Jugendstrafanstalt in Hameln rund 100 wirklich „schweren Jungs“ vorgelesen. Es gibt ein anderes Problem, mit dem sich Pädagogen und Leseförderer zurzeit intensiv beschäftigen. Eine Generation emanzipierter, so genannter „starker Frauen“ – in den Schulen und in den Grundschulen lehren fast ausschließlich Frauen – wie auch eher weibliche, „kuschelige“ Lesesituationen haben bewirkt, dass Jungen orientierungslos im Hinblick auf männliche Bezugspersonen geworden sind. Dies gilt für die Abwesenheit von Vätern in der Erziehung und von männlichen Pädagogen in Vor- und Grundschule. In nahezu allen Bereichen stellen wir fest, dass nur ein Drittel der Jungen, aber zwei Drittel der Mädchen gern, viel und gut lesen. Tatsache ist außerdem, dass Mädchen offenbar zu erzählender Literatur einen direkteren Zugang haben als Jungen. Jungen werden ihrerseits stärker von Sachbüchern und einschlägigen Zeitschriften angesprochen, in denen sie Lesestoff zu ihren spezifischen Interessen finden. Da der Deutschunterricht aber auf erzählende Literatur ausgerichtet ist, erhalten die Jungen in der Schule zu wenige Anregungen zur Lektüre. Doch besuchen Sie unsere Akademie doch einfach einmal auf unserer homepage.
CM: Meinen Sie, dass auch Kindern das Denken eines Leibniz, z.B. sein Konzept der Monaden, vermittelt werden kann?
Dr. Ruppelt: Leibniz war kein alien, sondern ein Mensch, wenn auch einer mit einem ungeheuren Geist. Ich bin davon überzeugt, dass alles, was ein Mensch gedacht hat, von anderen Menschen nach-gedacht werden kann, in abgestufter Weise auch von kleinen. Ich denke, dass das Buch von Annette v. Bötticher und Annette Antoine, das am 3. November bei uns vorgestellt werden wird, dies zeigen kann.
CM: Herr Doktor Ruppelt wir danken Ihnen!
zur Person
Georg Ruppelt, geboren am 3. Oktober 1947, studierte Geschichte, Germanistik, Pädagogik und Philosophie in Göttingen und Braunschweig, wo er 1978 mit einer interdisziplinären Dissertation über „Schiller im nationalsozialistischen Deutschland“ promoviert wurde.
1987 wurde er als Stellvertreter Paul Raabes an die Herzog August Bibliothek (HAB) berufen. 2002 wurde er Direktor der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover, die seit 2005 auf seine Veranlassung hin den Namen Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek trägt.
Seit 1979 engagiert sich Dr. Ruppelt in nationalen und internationalen bibliothekarischen und kulturpolitischen Gremien. Zehn Jahre gehörte er dem Vorstand des Vereins Deutscher Bibliothekare, elf Jahre dem des Deutschen Bibliotheksverbandes an, dessen Vorsitzender er 1995 bis 1998 war. Er konnte u.a. als Sprecher (2000–2006) des Dachverbandes aller Bibliotheks- und Informationsverbände „Bibliothek & Information Deutschland“ deutsche Bibliothekspolitik entscheidend mitprägen. Als Präsident des Nationalen Organisationskomitees bereitete er den Weltkongress der Bibliothekare in Berlin vor (IFLA 2003), der mit 4600 Teilnehmern aus 133 Nationen der bis dato größte Kongress seiner Art war.
Von 2000 bis 2005 und seit 2007 war und ist er u. a. Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Kulturrates; 2001–2006 Beirat des Goethe-Instituts, 2004–2006 Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission, seit 2000 ist er Zweiter Sprecher der Deutschen Literaturkonferenz.
Besonders intensiv engagiert sich Dr. Ruppelt in der Leseförderung. Von 1996 bis 2005 gehörte er dem Vorstand der Stiftung Lesen an, dessen Vorsitzender er von 2001 bis 2005 war. 2004 gründete er an der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek die Akademie für Leseförderung, die von der Stiftung Lesen und dem Land Niedersachsen getragen wird.