Leseförderung
Denn wer nicht richtig lesen kann, fühlt sich ausgegrenzt und wird schnell ausgeschlossen – zumal sprechen und lesen eigentlich im Doppelpack daherkommen. Eine Erkenntnis, die Dr. Georg Ruppelt, dem Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek und damaligen Vorsitzenden der Stiftung Lesen, 2004 bewegte, die Akademie für Leseförderung in Niedersachsen aufzubauen. Für seine Verdienste um die Leseförderung und die Bibliotheken händigte ihm der Niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff 2005 das Bundesverdienstkreuz aus. Seine Beweggründe beschreibt er gegenüber Convivio mundi so:
„Die Idee wurde geboren aufgrund der Tatsache, dass ich damals Vorstandsvorsitzender der Stiftung Lesen und gleichzeitig eben Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (GWLB) geworden war. Warum, so sagte ich mir, tut nicht auch eine wissenschaftliche Bibliothek etwas für die Leseförderung, zieht sich also ihren eigenen Nachwuchs heran … Die Kompetenz, so meinte ich, ist doch zum Teil vorhanden, zum Teil wäre sie aus pädagogischen Kreisen einzuholen.
Die eben startende neue Landesregierung unter Ministerpräsident Wulff hat die Unternehmung von Anfang an unterstützt, und die Bereitschaft sowohl des Kultusministeriums wie des Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, uns zu fördern, war in schönster Weise vorhanden.
Einige Wissenschaftler und Bibliothekskollegen haben ein wenig die Nase gerümpft, aber das hat uns nicht gestört. Ich war von der Notwendigkeit, neue Wege in der Leseförderung zu gehen, überzeugt, hatte auch schon Jahre im Vorstand der Stiftung aus diesem Grunde mitgearbeitet. Und ich gestehe ohne Scheu, dass ich mich über das Bundesverdienstkreuz für diese Arbeit riesig gefreut habe und immer noch stolz darauf bin.
Der Erfolg hat uns jedenfalls recht gegeben, und wir sind, dessen bin ich mir sicher, auf dem richtigen Weg. Das Ziel der Akademie ist es, sich selbst überflüssig zu machen, aber bis dahin ist noch ein langer Weg.“
2006 holte er die Lehrerin Karola Penz in das Team der Akademie für Leseförderung. Karola Penz absolvierte gleich nach dem Abitur ihr erstes Praktikum in einer Schule für Sprachbehinderte. Nach dem Studium für das Lehramt an Sonderschulen legte sie ihren Schwerpunkt auf die Lern- und Sprachbehindertenpädagogik. Im August 2006 wurde sie – zunächst bis 2012 – aus dem Schuldienst abgeordnet an die Akademie für Leseförderung.
Renate Müller De Paoli hat mit ihr gesprochen:
Frau Penz, zurzeit wird viel und hitzig über Integration debattiert, wobei die Beherrschung der deutschen Sprache als entscheidender Schritt für eine Integration gesehen wird. Zahlen u. a. der Stiftung Lesen zeigen jedoch, dass immer mehr Kinder mit und ohne Migrationshintergrund Sprachprobleme haben, dementsprechend Schwierigkeiten beim Lesen und im Leseverständnis. In der Konsequenz können sie in der Schule dem Unterricht in vielen Fächern nicht mehr folgen. Was läuft da schief – denn wer nicht richtig Lesen kann, fühlt sich doch ausgegrenzt und ausgeschlossen?
Aufgrund der Ergebnisse aktueller Studien zur Leseentwicklung hat sich auch in der Leseförderung das Blickfeld erweitert. Häufig fehlen wesentliche Sprach- und Leselernvoraussetzungen, wenn die Kinder in die Schule kommen. Programme wie Lesestart oder das der Rucksackmütter, in denen Eltern schon früh über die Bedeutung der Sprach- und Leseförderung in der Familie aufgeklärt werden und Ratschläge erhalten, setzen hier an.
2004 hat Dr. Georg Ruppelt, der damalige Vorsitzende der Stiftung Lesen, die Akademie für Leseförderung in Niedersachsen, die von der Stiftung Lesen und dem Land Niedersachsen getragen wird, aufgebaut. Wie versucht die Akademie für Leseförderung gegenzusteuern? Wo setzen Sie an?
Die Akademie für Leseförderung leistet in Niedersachsen einen wesentlichen Beitrag zur Qualitätsentwicklung in Leseförderprogrammen, indem die drei Mitarbeiter Erzieherinnen, Bibliothekare und Lehrkräfte in den Einrichtungen schulen und beraten (Fortbildung on demand), Kontakte zu Institutionen vermitteln und somit zur Vernetzung regionaler Partner beitragen. Gerade die Zusammenarbeit von Kindergärten und Grundschulen findet hierbei besondere Beachtung. Fachkräfte können beispielsweise diagnostische Kompetenzen erwerben, um frühzeitig gezielte Leseförderung zu ermöglichen.
Wissen Eltern heutzutage einfach nicht mehr, wie wichtig Singen, Sprechen, Fingerspiele etc. für die kleinen Knirpse sind? Oder hat sich unsere Gesellschaft so verändert, z. T. auch aus ökonomischen Gründen, dass keine Zeit mehr für ein Miteinander zwischen Eltern und Kindern bleibt? Ist eine steigende Vernachlässigungstendenz in unserer Gesellschaft festzustellen? Wenn ja, wo sehen Sie die Ursachen?
Die Vorlesestudien der Stiftung Lesen zeigen, dass Eltern zu wenig Lesevorbild sind. Häufig wird zwar die Notwendigkeit gesehen, aber gerade viele Väter, die in der Vorlesestudie von 2009 im Fokus standen, haben zu wenig Interesse an der Leseförderung ihrer Kinder im Vorschulalter. Die Zeit, die die meisten Eltern mit ihren Kindern spielend, singend oder lesend verbringen, reicht nicht aus, um eine stabile Lesehaltung zu entwickeln und auf das Lesenlernen in der Schule vorzubereiten. Eltern, deren Muttersprache nicht deutsch ist und die aus so genannten bildungsfernen Familien stammen, sind hier vielfach überfordert und kennen wenig Alternativen. Dabei ist nachgewiesen, dass die Sprachgepflogenheiten im häuslichen Umfeld – ebenso wie die Medienausstattung des Kinderzimmers – maßgeblichen Einfluss auf die Lese- und Lernleistungen der Grundschüler haben.
Sind wir evtl. mit einem Breitenphänomen konfrontiert, dass sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht, weil unsere Gesellschaft im Zeitalter von Internet und Handys generell sprachloser wird?
Es ist jedoch falsch zu behaupten, dass weniger gelesen wird als früher. Kinder lesen anders und Anderes, ihre Lesesozialisation unterscheidet sich wesentlich von der ihrer Eltern. Dieser Entfremdungsprozess erschwert die Leseerziehung, die sich ja nicht mehr nur auf Printmedien bezieht. Auch die Medienerziehung verlangt Interesse an den medial vermittelten Lesestoffen, eine Begleitung, klare Regeln sowie einen Dialog mit den Kindern. Kinder müssen lernen, wann und zu welchem Zweck welches Medium für sie dienlich ist. Jungs nutzen beispielsweise in der Freizeit zur Entspannung eher ein Computerspiel, Mädchen greifen eher mal zum Buch, um zu entspannen.
Ähnelt sich das Leseverhalten von Jungen und Mädchen? Oder gibt es alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede? Ändert sich das Leseverhalten mit dem Heranwachsen z.B. in der Pubertät?
Es gibt Unterschiede in der Modalität, den Lektürepräferenzen, der Lesehäufigkeit und auch den Lesekompetenzen von Mädchen und Jungen. Die Lesemotivation der Jungs verlangt besondere Beachtung, denn diese verlieren vielfach nach den ersten Grundschuljahren, aber auch in der Pubertät, die Leselust. Das liegt nicht nur an den angebotenen Lesestoffen. Ob sie später wieder zum Buch greifen, hängt auch von der frühen Lesesozialisation ab.
Wie kann das Buch seinen Platz in der heutigen Fernseh- und Computerwelt behaupten, wenn selbst die Erwachsenen oft als Vorbilder ausfallen?
Helden, die zur Identifikation dienen, finden viele in Computerspielen, zu denen sie zudem zu Hause leichter Zugang haben als zu Büchern. Bibliotheken müssen ihre Attraktivität für diese Zielgruppe erhöhen, so dass der Übergang vom neuen Medium zum Buch, zur Zeitschrift oder zum Comic unterstützt wird. Freizeit- und Lesealternativen aufzuzeigen, das ist auch Aufgabe von Eltern und Schule.
Welchen Rat geben Sie Eltern? Wie können Eltern, ihre Kinder an Bücher heranführen, sie neugierig machen auf Bücher und den Spaß am Lesen?
Lesen Sie in Anwesenheit der Kinder: morgens die Zeitung, im Wartezimmer eine Zeitschrift, zur Urlaubsvorbereitung den Reiseführer. Erforschen Sie Lese- und Medieninteressen ihres Kindes und lesen Sie mit ihren Kindern Bastelanleitungen, Kochrezepte, Songtexte, Fußballergebnisse, Aufschriften im Supermarkt, Fahrpläne usw. Und gehen Sie mit ihren Kindern in die Bibliothek. Auch ein kleiner Brief auf dem Frühstückstisch, wenn die Eltern schon bei der Arbeit sind, ist ein Leseanlass. Oder besuchen Sie doch, falls ihr Kind älter ist, mal gemeinsam einen Poetry Slam! Und statten Sie das Kinderzimmer vor und in der Grundschulzeit nicht mit einem Fernseher aus! Vereinbaren Sie gemeinsam Mediennutzungsregeln mit dem Kind!
Wie kann jemand Vorlesepate werden? Welche Voraussetzung sollte er oder sie möglichst erfüllen?
Vorlesepatenunterstützen mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit die Förderung von Lesefreude und das Interesse am Umgang mit Büchern. Nähere Informationen finden Sie auf der Homepage der Stiftung Lesen, die diese ausbildet und begleitet.
„Die guten Leute wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe kostet, um Lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, dass ich am Ziele wäre.“ (Goethe)
Vita von Dr. Georg Ruppelt
geboren am 3. Oktober 1947 in Salzgitter,
studierte Geschichte, Germanistik, Pädagogik und Philosophie in Göttingen und Braunschweig, wo er 1978 mit einer interdisziplinären Dissertation über „Schiller im nationalsozialistischen Deutschland“ promoviert wurde.
Danach war er Bibliotheksreferendar in Wolfenbüttel und Köln, später Direktionsassistent und Abteilungsleiter an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg sowie nebenamtlicher Dozent an der Universität.
1987 wurde er als Stellvertreter Paul Raabes an die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttelberufen. 2002 wurde Ruppelt Direktor der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover, die seit 2005 auf seine Veranlassung hin den Namen Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek trägt. 2007 wurde der Leibniz-Briefwechsel der Bibliothek in das UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen.
Seit 1979 engagiert sich Ruppelt in nationalen und internationalenbibliothekarischen undkulturpolitischen Gremien. Zehn Jahre gehörte er dem Vorstand des Vereins Deutscher Bibliothekare, elf Jahre dem des Deutschen Bibliotheksverbandes an, dessen Vorsitzender er 1995 bis 1998 war. Er konnte als Vizepräsident, dann als Präsident (2000–2006) des Dachverbandes aller Bibliotheks- und Informationsverbände „Bibliothek & Information Deutschland“, dem auch das Goethe-Institut und die Bertelsmann Stiftung angehören, deutsche Bibliothekspolitik entscheidend mitprägen.
Als Präsident des Nationalen Organisationskomitees leitete er 2003 den Weltkongress der Bibliothekare in Berlin (IFLA), der mit 4600 Teilnehmern aus 133 Nationen der bis dato größte Kongress seiner Art war.
2002, 2005 und 2007 initiierte er in Hannover, unterstützt von der Bundesregierung und dem Land Niedersachsen, drei internationale Kongresse zum Thema „NS-Raubgut“; ein vierter Kongress wird für 2011 vorbereitet.
Seit 2000 ist Ruppelt Vizepräsident des Deutschen Kulturrates und seit 2001 Zweiter Sprecher der Deutschen Literaturkonferenz. Von 2000 bis 2006 war er Beirat des Goethe-Instituts und Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission.
Besonders intensiv engagiert sich Ruppelt in der Leseförderung. Von 1996 bis 2005 gehörte er dem Vorstand der Stiftung Lesen an, dessen Vorsitzender er von 2001 bis 2005 war. 2004 gründete er an der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek die Akademie für Leseförderung, die von der Stiftung Lesen und dem Land Niedersachsen getragen wird.
Für seine Verdienste um die Leseförderung und die Bibliotheken händigte ihm der Niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff 2005 das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland aus. Im Verlag Olms, Hildesheim, erschien 2006 der Ruppelt gewidmete Band „Aufbruch als Ziel“.
Ruppelt hat über 40 Monographien und 400 Aufsätze zum Buch- und Bibliothekswesens, zur Kulturgeschichte und -politik sowie zur Literatur- und niedersächsischen Regionalgeschichte publiziert.