… eben dieses Staunen
Es sei der „Anbruch einer neuen Ära“, „Überall sind Galaxien“, verkündete die NASA begeistert, nachdem die ersten bahnbrechenden, wissenschaftlichen Aufnahmen des Weltraumteleskop James Webb enthüllt wurden. Welch neue Perspektiven tun sich da auf in Zeiten, wo die Welt und die Institutionen aus den Fugen geraten und Krieg und Hungerkatastrophen das Leben auf der Erde verdunkeln. Auch Navid Kermani, der deutsch-iranische Schriftsteller und habilitierte Orientalist, versucht in seinem Buch Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – Fragen nach Gott, 2022 im Hanser Verlag erschienen, den Blick in einer Zeit, „wo sich alles um Macht, Geld, um Anerkennung dreht“, auf „etwas Höheres“ zu richten.
In diesem sehr persönlichen Buch spricht der Vater jeden Abend mit seiner jungen, skeptischen Tochter über existentielle Fragen und Wunder des Lebens, über Geburt, Liebe und Tod, Endlichkeit und Unendlichkeit. „Als er im Krankenhaus lag, sollte ich Opa versprechen, dich den Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, den Islam, den auch er als Kind in Isfahan erlebt hatte. (…) Du hast viel gelernt über den Propheten, über Gebote und Verbote, über Schriften, Gebete, Feste und Sitten (…) Aber worum es dem Islam eigentlich geht, und nicht nur dem Islam, sondern im Grunde allen Religionen, also weshalb wir von uns sagen, dass wir an Gott glauben, darüber hast du kaum etwas erfahren. Es war so, als würden die Bücher die Kleidung eines Menschen beschreiben, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wer dieser Mensch überhaupt ist – sein Gesicht, sein Charakter …“, so beginnt Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – Fragen nach Gott. Dabei will Navid Kermani, Kenner zweier Kulturen, weder belehren, noch missionieren, denn „das Buch, das Opa sich gewünscht hat, ist kein Wettbewerb“ und „Dein Opa sagte immer – und ich habe den gleichen Satz von meinen eigenen Großeltern in Isfahan im Ohr: Wer Christen oder Juden zu Ungläubigen erklärt, kann selbst kein guter Muslim sein.“
NAVID KERMANI
www.navidkermani.de
Offen, ehrlich, zweifelnd und suchend versucht Kermani in diesem poetischen Schatz alle, die noch Staunen können – „eben dieses Staunen ist der Ursprung des Islams und aller Religionen“ – mit vielfältigen Bildern und Details einen Schritt näher an die eigene, innere „natürliche Religiösität“ zu führen: „Wo sich alles um Macht, um Geld, um Anerkennung dreht, kann es regelrecht befreiend sein, an etwas Höheres zu glauben, das sich nach den Maßstäben dieser Welt nicht rechnet.“ Ein lesenswertes Buch, nicht nur für Kinder und Jugendliche.