Paul Celan

Buchbesprechung

„Ein einfaches Wort, das ich hier aufschreibe:
Herz. Ein einfacher Weg: dieser.“
(Paul Celan, Januar 1960)

„…weil ich weinen muss, weinen, weinen, weinen…“, schreibt der 18-jährige Paul Celan, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Nachkriegszeit, aus Tours in Frankreich an einen Schulfreund in der Bukowina im Dezember 1938. Celan spricht sicher manchem heute, 86 Jahre später, aus dem Herzen angesichts der dramatischen Weltlage, des überall aufkeimenden Nationalismus, der nicht enden wollenden kriegerischen Auseinandersetzungen und der quo immer bangeren Frage: Quo vadis Europa; vadis Welt?

Die Celan-Forscherin Barbara Wiedemann hat mit der Briefsammlung Paul Celan »etwas ganz und gar Persönliches« Briefe 1934–1970, erschienen im Suhrkamp Verlag, eine ganz besondere, lesenswerte Biografie dieses Künstlers herausgegeben, umso mehr als Celan in seinen Briefen als wichtiger Zeitzeuge über vier Jahrzehnte Nachkriegsgeschichte auch zeigt, dass Geschichte sich in gefährlichster Weise heute zu wiederholen droht.

Wiedemann hat insgesamt 691 Briefe Celans an 252 Adressatinnen und Adressaten – davon 330 Erstdrucke – ausgewählt und kommentiert, um das Leben Paul Celans möglichst umfassend in seinen verschiedensten Facetten durch Briefe abzubilden und das Verständnis seiner Dichtkunst zu vertiefen – darunter Briefe an Familienmitglieder, geliebte Frauen, Freunde, Berufskollegen und Verleger, in denen Celan „ganz und gar Persönliches“ über seine Gefühlswelt, seine Arbeit, Belastungen und Sorgen, stärker werdende psychische Probleme und über dramatische politische Entwicklungen, die sich über die Jahrzehnte vielleicht aus dem Gedächtnis des Einzelnen verflüchtigt haben, preisgibt.

Paul Celan, eigentlich Paul Antschel, der sich selbst als „ein Wandernder im Dunkel“sieht, fasziniert und irritiert, ja verstört im Nachkriegsdeutschland mit seiner Lyrik. Denn Celan sieht seine Gedichte vielmehr als einen „Versuch, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, ein Versuch, Wirklichkeit zu gewinnen, Wirklichkeit sichtbar zu machen. Wirklichkeit ist für das Gedicht also keineswegs etwas Feststehendes, Vorgegebenes, sondern etwas in Frage Stehendes, in Frage zu Stellendes. Im Gedicht ereignet sich Wirkliches, trägt Wirklichkeit sich zu.“ Insofern kann die deutsche Lyrik, so Celan 1957, „bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem »Schönen«, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich, das Polychrome des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine »grauere« Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre »Musikalität« an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem »Wohlklang« gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte.“

Bewusst stellt er sich somit gegen Theodor W. Adornos These, ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben sei barbarisch; und legt wie ein hochsensibler Seismograph in seinen Gedichten immer wieder den Finger in tiefe deutsche Wunden, und dies nicht nur mit seinem bekanntesten Gedicht Die Todesfuge, entstanden kurz nach Kriegsende.

Celan setzt in seiner Dichtung auf den „Akut des Heutigen“, wie er 1960 in seiner Dankesrede zum Erhalt des Büchnerpreises formuliert, Sprache ist für ihn „innere Landschaft“. Und Celans „innere Landschaft“ – als Sohn österreichischer Juden in Czernowitz in der Bukowina, „einer ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie“,heutige Ukraine, am 23. November 1920 geboren – ist geprägt von Ausgrenzung, Zwangsarbeit und Flucht. Von 1942 an zur Zwangsarbeit „in das sogenannte Arbeitslager Buza˘ua (Rumänien) eingeliefert [...] In Erdhütten gepfercht, die einen nur sehr geringen Schutz gegen die Unbilden der Witterung gewährten und jeder hygienischen Einrichtung ermangelten, mussten wir schwere physische Arbeit verrichten“, entgeht er der Deportation in ein Vernichtungslager. Seine Eltern hingegen werden im Juni 1942 in die Vernichtungslager Michailowka und Gaissin deportiert. Der Vater stirbt dort bald an Typhus, die Mutter wird von der SS erschossen. Im April 1970, wenige Tage vor seinem Freitod in Paris in der Seine, antwortet Celan auf den Brief der rumänischen Lyrikerin und Komponistin Nina Cassian: „Dein Brief, der mich über den Tod Deiner Mutter informiert und das, was Dir dieser Tod auferlegt hat, weckt in mir die Erinnerung an die Augenblicke, in denen ich erfuhr, daß meine Mutter tot war. An die Augenblicke: denn ich habe das bröckchenweise erfahren, mit, natürlich, eines Tages dem großen Brocken, dem endgültigen Brocken. Es war an einem Nachmittag, es war hell.“

1945 flieht Celan nach Bukarest, im November 1947 von Bukarest über Budapest nach Wien. Doch Wien wird für ihn „immer ungemütlicher“, da die Bukowina nach dem Zweiten Weltkrieg in Stalins Machtbereich fiel und Wien in vier Sektoren geteilt war, die im Monatsturnus von den vier Besatzungsmächten verwaltet wurden, somit „Einem nach heutigen Begriffen in Rußland geborenen Flüchtling (…) wenig Sicherheit“ bot. 1948 siedelt er dann nach Paris über. Seine Versuche, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen und den Status des Staatenlosen zu verlieren, werden zunächst abgewiesen. Erst Mitte Juli 1955 erfolgt endlich die Einbürgerung und die Angst vor jedem Grenzübertritt schwindet.

Celan schreibt im Oktober 1948 an Max Rychner, den Leiter der Kulturredaktion der Tat in Zürich und einer der ersten, der Gedichte des noch völlig unbekannten Autors abdrucken ließ:

„Als ich vor einem Jahr Rumänien verließ, um ins Ausland zu gehen, ohne Paß und allein meinem Stern vertrauend, wußte ich, daß es geraumer Zeit bedürfen würde, bis ich aufgehört hätte, das zu sein, was ich immer noch bin und vielleicht bleiben muß: ein Wandernder im Dunkel. Eines hatte ich mir jedoch unberührt von all den Windstößen erhofft: meine Gedichte. Um ihretwillen ging ich nach Wien, in der Hoffnung, sie veröffentlichen zu können. [...]

Deutsch ist meine Muttersprache, und doch mußte ich deutsche Gedichte als ein Verbannter schreiben. Während der Kriegsjahre hatte ich es nicht leicht: als Jude kam ich in ein Lager, und meine Eltern fielen der SS zum Opfer. Als Kind zweier Österreicher, die nie die rumänische Sprache erlernt haben, wuchs ich in Rumänien auf, um 1940, als meine Geburtsstadt an Rußland fiel, neu zu beginnen und Russisch zu lernen. 1945 gelang es mir, Rußland zu verlassen und nach Rumänien zu gehn.1947 ging ich nach Wien, jetzt bin ich seit drei Monaten in Paris. Nun sind mir zwar Jessenin, Lautréamont und Rimbaud ebenso vertraut wie Hölderlin und Jean Paul und ich weiß, wieviel ich den Kulturen, durch die ich gehn mußte, verdanke, aber ich hätte doch gern gehört, was meine Gedichte den Menschen bedeuten, in deren Sprache sie geschrieben sind.“

Der Dichter Paul Celan auf einem Passfoto aus dem Jahr 1938

Der Dichter Paul Celan auf einem Passfoto aus dem Jahr 1938.

Die erste Erfahrung, „was meine Gedichte den Menschen bedeuten“ konnte Celan im Mai 1952 sammeln, als er zur Tagung der Gruppe 47 nach Niendorf an der Ostsee, ins Ferienhaus des Nordwestdeutschen Rundfunks eingeladen war. Zum ersten Mal rezitiert er seine Gedichte, auch Die Todesfuge, Celans Versuch, „das Ungeheuerliche der Vergasungen zur Sprache zu bringen“. Am 31. Mai 1952 schreibt er an Gisèle Lestrange, seine spätere Ehefrau: „Ma chèrie, jedes Mal wenn ich an dieses Dorf an der Ostsee denke, habe ich den Eindruck, als käme ich vom Ende der Welt zurück.

Es war wirklich alles sehr seltsam. [...]

Um neun Uhr abends war die Reihe an mir. Ich habe laut gelesen, ich hatte den Eindruck, über die Köpfe hinaus – die selten wohlmeinend waren – einen Raum zu erreichen, in dem die ‚Stimmen der Stille’ noch vernommen wurden.

Die Wirkung war eindeutig. Aber Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe, Initiator eines Realismus, der nicht einmal erste Wahl ist, lehnte sich auf. Diese Stimme, im vorliegenden Fall die meine, die nicht wie die der andern durch die Wörter hindurchglitt, sondern oft in einer Meditation bei ihnen verweilte, an der ich gar nicht anders konnte, als voll und von ganzem Herzen daran teilzunehmen – diese Stimme musste angefochten werden, damit die Zeitungsleser keine Erinnerung an sie behielten.

Jene also, die die Poesie nicht mögen – sie waren in der Mehrzahl – lehnten sich auf. [...]

Am Donnerstag werde ich hier in Frankfurt Gedichte lesen, und es werden vielleicht Vertreter mehrer Verlagshäuser da sein.

Ich habe den Eindruck, dass hier, in der Geburtsstadt Goethes, alles besser laufen wird.“

Wandernder im Dunkel

In den folgenden Jahren wird Celan dieses „Seltsame“ immer besser verstehen. Hellhörig registriert er jede „niederträchtige, monströse Äußerung“, geschickt „durch da und dort eingestreute Lippenbekenntnisse kaschiert“ in Gesprächen, Kritiken, auf Tagungen und Lesungen, die auf tief verwurzelte, nicht belehrbare Denkstrukturen weisen wie u.a. die rassistische Karikatur eines Studenten nach seiner Bonner Lesung 1958 zeigt. So wie es ihm nicht gleichgültig ist, „vor einem Publikum Gedichte zu lesen, das nazistische Äusserungen unwidersprochen lässt“, so hadert er insbesondere damit, dass Menschen nicht „auf den Gedanken gekommen waren, das Vorgefallene zu bedauern. Ich muß das ausdrücklich betonen: daß es [...] nicht in den Sinn kam, eine niederträchtige, monströse Äußerung zu bedauern, finde ich nicht minder skandalös als diese Äußerung selbst“.

Dieses Klima verdichtet sich für Celan im Zuge der Goll-Affäre. 1953 bezichtigt Claire Goll, Witwe des Dichters Yvan Goll, Celan in einem Rundschreiben an deutsche Verleger und Kritiker des Plagiats an seinem Freund Yvan Goll, sehr geneigt aufgegriffen und unterstützt von einigen in der Kritikerwelt. Zutiefst erschüttert versucht Celan nun in vielen, vielen Briefen über die Jahre bis zu seinem Tod dieser Verleumdung zu begegnen und seine dichterische Integrität zu verteidigen. Verzweifelt sucht er Rat und Hilfe bei Freunden, so schreibt er im April 1959 z.B. an Max Frisch: „…ich wollte Sie um Rat bitten, um ein Gespräch, in Zürich, in Basel, wollte Sie fragen, was zu tun sei – denn etwas muß ja getan werden! – angesichts all dieser sich mehr und mehr Raum greifenden Verlogenheit und Niedertracht und Hitlerei.“, und sechs Monate später an Walter Jens: „Es geht mir nicht gut; ich würge seit Monaten an diversen Erfahrungen mit dem Hitler-Nachwuchs und – was weitaus schlimmer ist – an Erfahrungen mit der Verlogenheit verschiedener sogenannter Nazi-Gegner. (Ach, ich übertreibe nicht …)“ , und im Dezember 1959 an Wolfgang Hildesheimer: „Es ist mir nicht unbekannt, dass ich den Ruf eines »Ueberempfindlichen«, »an Verfolgungswahn Leidenden« usw. geniesse (nicht zuletzt in Kreisen der Gruppe 47); ich habe Ihnen, als ich Ihnen meine verschiedenen Erfahrungen mit dem Hitler-Nachwuchs erzählte, Tatsachen geschildert; ich habe Ihnen deutlich zu machen versucht, dass ich es für meine – und nicht nur meine – Pflicht halte, Hitlerei nicht stillschweigend hinzunehmen.“ Besonders verstimmt und verbittert ihn die Oberflächlichkeit mancher Freunde, denen er vertraute: „… dieses »Nimm’s doch nicht so ernst, mein Guter!«, mit dem sie das Ganze abtun, diese Augenblicksfalte auf der Stirn, die sich sofort wieder glättet, weil der bereitstehende Wein den Gaumen bestimmt nicht enttäuscht.“

Je schwerer die emotionale und psychische Last über die Jahre für Celan wird, die zu wiederholten, längeren Klinikaufenthalten führt, umso genauer nimmt sein Seismometer Schwingungen und Bewegungen in Deutschland wahr: „Dieses gespenstische, stumme Noch-Nicht, dieses noch gespenstischere, stummere Nicht-mehr und Schon-wieder, und dazwischen das Unvorhersehbare, schon morgen, schon heute.“, wie er an Nelly Sachs nach Schweden schreibt.

Genauestens verfolgt er in den französischen Zeitungen, was in Deutschland geschieht, „gerade da, wo ich noch gestern, von sehr weit her, mit einigen Hoffnungen war“. Denn in den „hiesigen Zeitungen ist viel von den NDP-Erfolgen die Rede. »Le Monde« zitierte dazu u. a. Graß, der gesagt haben soll, man dürfe der NDP nicht die Chance der Klandestinität geben. Im »Spiegel« hieß es jüngst, ebenfalls von Graß her, man solle die Neo-Nazis nicht dämonisieren und diffamieren … Na ja.“. 1966 wurde die 1964 gegründete rechtsextreme NPD dann in die Landtage von Bayern und Hessen gewählt. So erwähnt er aber auch im Brief an den aus Prag stammenden US-amerikanischen Kulturphilosophen und Soziologen Erich Kahler, wie verhasst ihm der Linksnationalismus, dem er u.a. auch in Literatenkreisen begegnet, in Deutschland ist. Ebenso hofft er nach seinem ersten Zusammentreffen mit Martin Heidegger anlässlich seiner Freiburger Lesung im Auditorium der Universität am 24. Juli 1967 „auf ein kommendes Wort“ Heideggers, der in seiner berüchtigten Freiburger Rektoratsrede schon im Mai 1933 den Nationalsozialismus unterstützte. Celan berichtet Gisèle am 2. August über das Zusammentreffen und den tags darauf auf Einladung Heideggers folgenden Besuch in der Hütte des Philosophen in Todtnauberg: „… Die Lesung in Freiburg ist ein außergewöhnlicher Erfolg gewesen: 1200 Personen, die mir eine Stunde lang mit angehaltenem Atem gelauscht haben und die mir dann, nachdem sie lange geklatscht hatten, noch einmal eine knappe Viertelstunde zugehört haben. / Heidegger war auf mich zugekommen – am Tag nach meiner Lesung bin ich mit Herrn Neumann, dem Freund Elmars, in Heideggers Hütte im Schwarzwald gewesen. Dann kam es im Auto zu einem ernsten Gespräch, bei dem ich klare Worte gebraucht habe. Herr Neumann, der Zeuge war, hat mir hinterher gesagt, daß dieses Gespräch eine epochale Bedeutung hatte. Ich hoffe, daß Heidegger zur Feder greifen und einige Seiten schreiben wird, die sich auf das Gespräch beziehen und angesichts des wieder aufkommenden Nazismus auch eine Warnung sein werden.“ In seinem berühmten Gedicht Todtnauberg verdichtet Celan dieses Zusammentreffen und die darin liegende „Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen“ ein weiteres Mal. Doch das „Wort“ bleibt aus. Am 2. Februar schreibt Celan an Robert Altmann, den Verleger des Einzeldrucks von Todtnauberg:

„Lieber Herr Altmann, lassen Sie mich Ihnen nur die drei zentralen Sätze aus Martin Heideggers Brief vom 30. Januar zitieren:

„Das Wort des Dichters, das›Todtnauberg sagt, Ort und Landschaft nennt, wo ein Denken den Schritt zurück ins Geringe versuchte – das Wort des Dichters, das Ermunterung und Mahnung zugleich ist und das Andenken an einen vielfältig gestimmten Tag im Schwarzwald aufbewahrt. ......

Seitdem haben wir Vieles einander zugeschwiegen. Ich denke, daß einiges noch eines Tages im Gespräch aus dem Ungesprochenen gelöst wird.“

„Mögen die Waffen ruhen!“

Doch es ist nicht nur Deutschland, das ihn beunruhigt, auch andere politische Entwicklungen gehen an dem Lyriker nicht spurlos vorbei: „Viel Beklemmendes geschieht, auch zu dieser Stunde, in der Welt – ich verliers nicht aus den Augen.“ Betroffen und erregt schreibt er am 8. Juni 1967, drei Tage nach Ausbruch des Sechstagekrieges seinem Freund Franz Wurm*: „In mir ist Unruhe, der Dinge um Israel wegen, der Menschen dort, des Krieges und der Kriege wegen. Israel muß leben und dazu muß alles aufgeboten werden. Aber der Gedanke an eine Kette von Kriegen, an das Markten und Schachern der »Großen«, während Menschen einander töten – nein, das kann ich nicht zu Ende denken. [...] Mögen die Waffen ruhen!“ *(Franz Wurm, in Prag geboren, überlebte die Deportation, weil die Eltern ihn 1939 zu Verwandten nach England schickten.)

Noch am selben Tag schreibt er auch an die deutsche Studentin und Freundin Gisela Dischner, der späteren Professorin für Deutsche Literaturwissenschaft in Hannover: „Ich habe keine leichte Zeit hinter mir, keine leichte vor mir. Aber geschrieben habe ich viel, ein ganzes neues Gedichtbuch dürfte jetzt da sein. [...] Israel: ich bin voller Unruhe und Sorge. Israel muß leben, alles muß aufgeboten werden, damit es lebt, aber es muß ein Weg gefunden werden zum Frieden – welcher? welche? Wer weiß, wie weit wir den Ereignissen überhaupt noch ablesen, was sich in den Köpfen der »Verantwortlichen«, der »Führer«, in den Staatskanzleien, Geheimdiensten usw. abspielt.“

Als im Frühjahr 1968 die Kommunistische Partei unter Alexander Dubcek in der Tschechoslowakei Demokratisierungsversuche im sogenannten Prager Frühling wagt, schreibt Celan, der „von einem dreijährigen Böhmen-Aufenthalt meiner Mutter her [...] einigermassen »angeböhmt«“ seine Liebe und Sehnsucht zu Prag schon in seinem Gedicht In Prag zum Ausdruck brachte, am 29. April 1968 an seinen Freund Wurm: „So was, zumal wenn die Sowjetmarschälle Prag bestiefeln, geht an mir nicht vorbei – dann kommt auch, z.B., ein Zwetajewa-Gedicht dahergezuckt, nach dem Einmarsch der Deutschen geschrieben.“

Was für eine Vorahnung! In der Nacht zum 21. August 1968 marschierte rund eine halbe Million Soldaten des Warschauerpaktes in die Tschechoslowakei und Prag ein. Sie besetzten innerhalb weniger Stunden alle strategisch wichtigen Institutionen des Landes. Knapp fünf Monate später, am 16. Januar 1969 übergoss sich der Student Jan Palach aus Protest gegen die brutale Niederschlagung und Rücknahme der Reformen auf dem Prager Wenzelsplatz mit Benzin und zündete sich an; er starb am 19. Januar 1969.

In dieser „Zeit des Gegenmenschlichen“, bei all dem Beklemmenden in der Welt und seiner Betroffenheit darüber, bei all der erfahrenen und wahrgenommenen Anfechtung, Ablehnung, Kränkung und Verhöhnung, die Paul Celan „am eigenen Ort“ zuteil werden, hält ihn nur die Arbeit an seinen Gedichten „stehend“; bleibt Celan seine deutsche Muttersprache, die Sprache der Täter, als Anker und Mittel „das Trauma – vielleicht auch das Stigma … Oder auch: das Gewissen. Oder auch nur: ein Nicht-schlafen-können, manchmal …“ auszuhalten und trotz alledem zu sprechen, sich zu orientieren, „um mir Wirklichkeit zu entwerfen.“ Trotz alledem bleibt „mir meine Heimat erhalten: meine Sprache“.

Die Gegenwart des Anderen

Im November 1954 schreibt er an den Schriftsteller Hans Bender, der Celan-Gedichte publizierte: „Die Lebensumstände, das Leben im fremden Sprachbereich haben es mit sich gebracht, dass ich mit meiner Sprache viel bewusster umgehe als früher – und doch: das Wie und Warum jenes qualitativen Wechsels, den das Wort erfährt, um zum Wort im Gedicht zu werden, weiss ich auch heute nicht näher zu bestimmen.“ – Aktueller könnte doch die Fragestellung für die heutige Zeit, bestimmt von Emojis, Klicks, schnellen Antworten und Künstlicher Intelligenz (KI), nicht sein.Einer Zeit,in der Gedichte inzwischen auch von KI generiert werden und diese KI-Gedichte von den 1.600 Studienteilnehmern eines Forschungsprojektes, wie eine US-Studie, veröffentlicht im November in Scientific Reports, zeigt, als einfacher und zugänglicher bezeichnet wurden. Während die Gedichte der menschlichen Autoren, unter ihnen u.a. Shakespeare, häufig mit der Aussage „macht keinen Sinn“ bedacht wurden. Angesichts dieser unaufhaltsamen Entwicklung von KI ist der „ganz und gar persönliche“ Blick in die methodische Werkstatt des Dichters Paul Celan, dem stets der Vorwurf der Unverständlichkeit gemacht wurde, nicht nur für Liebhaber von Gedichten ein hilfreicher Wegweiser wie auch große Herausforderung.

Im Brief an Hans Bender heißt es dann weiter: „Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Warum meines Dichtens habe ich mich auf meine erste Begegnung mit der Poesie zu besinnen versucht: ich war sechs Jahre alt und konnte ›Das Lied von der Glocke‹ »aufsagen«. Wer weiss, ob nicht der Eindruck, den das auf meine Zuhörer machte, alles Weitere ausgelöst hat.“ Celan, der in Paris an der Sorbonne Germanistik und Sprachwissenschaften studierte, ist also seit seiner Kindheit bestens vertraut und verwurzelt in der klassischen deutschen Dichtkunst. So ist Goethes Faust, wie er Friedrich Michael, Schriftsteller und Lektor im Insel-Verlag im Juni 1961 mitteilt, für ihn eines der wichtigsten Geschenke zu seiner Bar Mizwah: „Das älteste Buch meiner Bibliothek – und zugleich einer der drei Gegenstände, die mich an zuhause erinnern, ist … ein Insel-Buch. Es ist die in blaues Leder gebundene Dünndruckausgabe – du papier bible, n’est-ce pas?* – des »Faust«. Dieses Buch hat, auf seine (und meine) Weise ein Insel-Schicksal gehabt. Ich hatte es zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen, als ich, wie wir es nannten, »Bar Mizwah wurde«. Bar Mizwah, das ist: der Gebotspflichtige.“ *(Bibelpapier, nicht wahr?)

Offenherzig schildert Celan in vielen Briefen gegenüber Kollegen und Freunden sein Ringen um das entscheidende „freiwerdende Wort“, und hinterfragt, welche Rolle Erinnerung und Erfahrung dabei spielen: „Gewiss, an diesem Freiwerden wirkt auch unser Bewusstsein mit, ist auch unsere Erinnerung und Erfahrung beteiligt – aber in welchem Masse? Könnte eine schärfere, methodisch vorgenommene Introspektion hier mehr Klarheit schaffen? Ich fürchte, es gehört zum Wesen des Gedichts, dass es die Mitwisserschaft dessen, der es »hervorbringt«, nur so lange duldet, als es braucht, um zu entstehen.“ Und er beschreibt, wie er sehr er auf „Eingebungen“ angewiesen ist, „auf ein plötzliches Aufklaffen der Sprachwirklichkeit (nicht der »Realität«!), auf jenes unvermutete Hervortreten eines einzelnen Wortes, um das sich ein paar andere gruppieren, in denen das zahllose Ausgesparte noch irgendwie mitschwingt. Wobei ich nicht einmal weiß, wodurch ich solche Augenblicke provozieren könnte! So weit ich die Augen auch aufreiße, um etwas von der Wirklichkeit festzuhalten – diese Wirklichkeit gibt erst dann etwas her, wenn ich mich ihrer erinnere.“

In einem Brief an Walter Jens vom Mai 1961 greift er dessen Aussage, „dass Wandlung Archetypen brauche“ am Beispiel abendlicher Vorleserituale für den kleinen, fünfjährigen Sohn Eric auf: „Wir lesen unserem Buben viel Andersen vor, und … ich sehe, was da alles, auf nicht immer so augenfällige Weise wie in der Überschrift »Der Reisekamerad«,* in meinen Gedichten mitgesprochen hat. Und – mit meinen Gedichten, aber nicht nur mit ihnen – bin ich wieder in meiner Kindheit, bin ich bei den Büchern meiner Kindheit, und … bei Gustav Schwab. [...]

Es gibt also – Anamnesis! – da, wo wirkliche Begegnungen stattfinden, im Grunde … Wiederbegegnungen.“ *(Gleichnamiges Märchen von Christian Andersen)

Da Sprache aber niemals selbst am Werk ist, „sondern immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht“, spart Celan nicht mit Kritik an der Tendenz in Literatenkreisen zum „symbolistischen Ungefähr“ und diskutiertem „Metaphern-Trend [...] man verbildlicht, was man nicht wahrnehmen, nicht wahrhaben will; Datum und Ort werden … zum »topos« zerschwätzt. Nun, Auschwitz war ja auch tatsächlich ein Gemein- und Tausendplatz …“ 1962 schreibt er der rumänischen Lyrikerin Nina Cassian: „Dichtung ist auf der Suche nach der Wirklichkeit, also anti-metaphorisch.“

Ausführlich beantwortet Celan den Brief einer 10. Klasse eines Bremer Gymnasiums vom Februar 1958. Ihr Lehrer hatte mit ihnen Celans Gedicht Vom Blau besprochen: „Ich halte – wie Sie – Gedichte für interpretierbar, glaube also keineswegs, dass »wir uns nur von dem Gefühl leiten lassen sollen, das uns beim Durchlesen ergreift«. Gedichte haben einen Sinn – einen Sinn, den man durch »Durchlesen« gewiss nicht erfasst. Ebensowenig halte ich Gedichte für »den Versuch, Bilder wirr durcheinanderzuwürfeln« – Gedichte, die es bei einem solchen Versuch bewenden lassen, sind keine Gedichte. Gedichte sind vielmehr ein Versuch, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, ein Versuch, Wirklichkeit zu gewinnen, Wirklichkeit sichtbar zu machen. Wirklichkeit ist für das Gedicht also keineswegs etwas Feststehendes, Vorgegebenes, sondern etwas in Frage Stehendes, in Frage zu Stellendes. Im Gedicht ereignet sich Wirkliches, trägt Wirklichkeit sich zu. [...] Heisst es anspruchsvoll sein, wenn man sich – als Autor – wünscht, der Leser möchte mit dem Gedicht mitdenken?“

Doch welche Wirklichkeit versucht Celan, das lyrische Ich, zeitlebens in dem „Neigungswinkel seiner Existenz“ belastet und leidend an der Schuld, den Holocaust überlebt zu haben, in seinen Gedichten wirklich zu entwerfen? „Wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend“ versucht er in seinen Gedichten, „durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg“ und „ein Äußerstes an menschlicher Erfahrung in dieser unserer Zeit“ einzubringen, sodass das Gedicht „ bei all seiner Unerbittlichkeit, all seinem Grau, aller Herbe des darin Geatmeten eine Möglichkeit menschlichen Zueinanders offen läßt. […] Es versucht es, inmitten der Beschönigungen und Bemäntelungen, auf das ungeschminkteste. Es spricht ins Offene, dorthin, wo Sprache auch zur Begegnung führen kann.“

Ist Begegnung also die Wirklichkeit, die Welt, die es zu gewinnen gilt? Ist Begegnung das Wirkliche, das sich im Gedicht ereignet? 1958 erklärt Celan anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen: »Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.«

Ist das „ansprechbare Du“, das die „Wahrheit des Gedichts“ für sich erlebt und nachzuleben versucht, die eigentliche Wirklichkeit, die sich im Gedicht ereignet?

Im März 1960 schreibt er an Werner Weber, den damaligen Feuilleton-Chef der NZZ:

„Sprache, zumal im Gedicht, ist Ethos – Ethos als schicksalhafter Wahrheitsentwurf. (Und wenn es nur diese – gewiß nicht einer kleinräumigen »Subjektivität« zuzuschreibende – Erfahrung gäbe: daß man der Wahrheit des Gedichts nachleben muß, – wenn es nur diese Erfahrung gäbe (und es gibt sie!), sie könnte genügen. Aber wieviele sind es denn heute, die solche Aspekte des Dichterischen überhaupt wahrnehmen? Das Gedicht wahrnehmen als menschliche – und mithin einmalige und vom Geheimnis der Einmaligkeit begleitete – Präsenz?“ Doch er endet den Brief mit einem düsteren Ausblick in die Zukunft, als ob er die gegenwärtige Entwicklung vorausgesehen hätte: „Aber wo bin ich jetzt mit diesen Worten? wir haben bereits eine kybernetische Lyrik – wir werden bald wohl auch – es lebe die »Folgerichtigkeit«! – eine lyrische Kybernetik haben …

Keine Sprache mehr, kein Gespräch mehr – nein, Information, Wortsysteme mit genauer Angabe der Wellenlänge für den »Empfang«, keimfreies formal designing für einstellbare Komplex-Augen.“

Zwei Monate später schreibt er aber an Peter Jokostra, den aus Dresden stammenden Schriftsteller, der 1958 aus der DDR floh: „Im Grunde, ich sehe das immer deutlicher, habe ich in Gedichten wieder und wieder auch das gesucht – Stimme und Gesicht, Gegenwart des Anderen.“

Und in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises sagt er im Oktober 1960 in Darmstadt: „Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben. […] Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.“

Sind wir vielleicht das Gegenüber, das ansprechbare Du, welches in dieser Zeit des kaum zu ertragenden Ausmaßes an Unmenschlichkeit und Zerstörung in der Welt, dieser „Zeit des Gegenmenschlichen“ der Dichtung Celans offen mit Herz und Verstand begegnet? Die Begegnung mit Celan fällt nicht leicht, konfrontiert er doch immer wieder mit den Abgründen menschlichen Verhaltens und Versagens. Celans poetische Sprache ist „grau“ und „aschenbildwahr“, denn es geht ihm „nicht um »Wohllaut«, es geht mir um Wahrheit.“.

„Lesen Sie! Immerzu lesen, das Verständnis kommt von selbst.“, ist der Rat Celans, der aus dem reichen Schatz des kulturellen Schmelztiegels der Bukowina schöpfen konnte, an diejenigen, die ihm Unverständlichkeit vorhielten. Seine Briefe aus vier Jahrzehnten sind in jedem Fall ein guter Wegbereiter, Paul Celan, dessen 55. Todestag sich im April 2025 jährt, „ganz und gar persönlich“ kennenzulernen.

Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Freitag, 20. Dezember 2024

Quellennachweis Bilder
Buchcover: © Suhrkamp Verlag
Foto Paul Celan (1938): Wikipedia - Unknown author

Buchbesprechung

„Ein einfaches Wort, das ich hier aufschreibe:
Herz. Ein einfacher Weg: dieser.“
(Paul Celan, Januar 1960)


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