Die Honigproblematik in Nietzsches Zarathustra
Es ist an der Zeit, einen lange übersehenen, doch nicht zu unterschätzenden Aspekt dieser Hymne auf den großen Mittag und den beginnenden Untergang zu untersuchen, dessen mehrfach wiederholte Erwähnung und die Tatsache, dass ihm ein ganzes Kapitel eigens gewidmet wird, deutliche Anzeichen für die tiefere Bedeutung sind, die sich hinter einem schlichten Wort verbirgt. Es geht hierbei um den Honiggedanken bei Nietzsche und die Problematik des Honigs sowohl an sich als auch seiner Erscheinung in seiner Bezogenheit auf die Seele des Menschen, wie auch seine Einbindung in die Zeremonie des Opferns.
Die Honigproblematik in Nietzsches Zarathustra
oder
Was außer „also“ sprach Zarathustra denn eigentlich?
Die solipsistische Immanenz des Buches, das den denkwürdigen Untertitel Ein Buch für Alle und Keinen trägt, platziert dasselbe gleichsam an der Grenze zur Implosion durch innere Leere und Selbstbezogenheit sowohl des Protagonisten als auch der Komposition des Werkes, wobei letztere sich – permanent auf sich selbst verweisend – nahtlos in die Reihe derjenigen Systeme fügt, deren selbstverschuldeten Untergang sie proklamiert. Es ist an der Zeit, einen lange übersehenen, doch nicht zu unterschätzenden Aspekt dieser Hymne auf den großen Mittag und den beginnenden Untergang zu untersuchen, dessen mehrfach wiederholte Erwähnung und die Tatsache, dass ihm ein ganzes Kapitel eigens gewidmet wird, deutliche Anzeichen für die tiefere Bedeutung sind, die sich hinter einem schlichten Wort verbirgt. Es geht hierbei um den Honiggedanken bei Nietzsche und die Problematik des Honigs sowohl an sich als auch seiner Erscheinung in seiner Bezogenheit auf die Seele des Menschen, wie auch seine Einbindung in die Zeremonie des Opferns.
Ein wichtiges Detail bezüglich der letzteren erfährt man im vierten Teil des Buches in dem Kapitel Das Honigopfer. „Es ist der Honig in meinen Adern, der mein Blut dicker und auch meine Seele stiller macht.“ Diese Worte äußert Zarathustra gegenüber den sprechenden Tieren und vergleicht sich in diesem Zusammenhang mit einem überreifen Obst. Zarathustra opfert demnach quasi sein eigenes Blut, das in Form von Honig durch seinen Körper fließt. Der tiefe Sinn und die Tragik, die sich dahinter verbergen, können sichtbar werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Zarathustra bereits im zweiten Teil des Buches, im Kapitel Von den Taranteln über die, „die viel von ihrer Gerechtigkeit reden“ behauptet, „ihren Seelen fehl[e] es nicht nur an Honig.“
Nicht nur, aber auch an Honig fehlt es ihren Seelen. Darin scheint der Opfergedanke implizit schon vorausgeschickt, wodurch sich ergibt, dass die Taranteln, die Vertreter einer Ideologie mit absolutem Anspruch auf Wahrheit, als eine Art unreifes Obst anzusehen sind.
Die eigentliche Problematik aber besteht darin, dass das Opfer nur ein vorgetäuschtes Opfer ist, das sich schließlich als das genaue Gegenteil, nämlich als das große „Netz-Auswerfen“ herausstellt, als ein Lobgesang an die Vielfalt und Ergiebigkeit der sinnlich erfahrbaren Natur.
So kehrt sich das geopferte Honig-Blut sinnbildlich in einen süßen Nektar, der eher als Köder, denn als Gabe zu verstehen ist. Aber noch ist man damit nicht bei der Weisheit letztem Schluss angelangt. Denn auch dieses Scheinopfer, das sich als Lockmittel für Fische, Krebse und Menschen erweist, ist nur scheinbar ein Scheinopfer, sofern es die Funktion eines Köders nämlich auch nur zum Schein innehat. Schließlich, sinniert Zarathustra, fing auf einem Berg noch kein Mensch je einen Fisch, was ihn jedoch von seinem Vorhaben nicht abbringt.
Dieses Verhaltensmuster, im Zusammenhang mit der Honigproblematik, gewährt uns einen erhellenden Einblick in die im Titel angedeutete Frage nach der Kernaussage Zarathustras. Es liegt nun auf der Hand – und hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass in diesem Zusammenhang nur die Kernaussage im Hinblick auf Honig betrachtet werden kann –, dass man den Honig aus den Adern Zarathustras nicht wegdenken kann, ebenso wenig wie das aufschlussreiche Kapitel über das Honigopfer aus der Gesamtkomposition des Zarathustra, da diese die Grundpfeiler der gesamten Religionsproblematik sind, wie auch der Antwort auf die Frage nach dem Willen zur Macht und dem absoluten Anspruch des Christentums sowie des notwendigen Zusammenbruchs desselben und dem damit sinnvoll' werdenden und konsequent zu praktizierenden Nihilismus.
Es dürfte also hinreichend beschrieben worden sein, wie wichtig die Honig-Frage für das Gesamtverständnis des Zarathustra und die gesamte Philosophie Nietzsches ist.
Bleibt zu ergänzen, dass die Zielgruppe, die Nietzsche im Titel seines Buches festlegt, nämlich Alle und Keine[r], ohnehin nicht erreicht werden kann. Der einzelne Leser kann sich mit keinem von beiden identifizieren, wiewohl er sich selbstverständlich als Teil ersterer Menge begreifen kann (er muss es mit dem Nihilismus schon sehr ernst nehmen, wenn er sich zur zweiten zählen wollte), worin allerdings implizit angelegt ist, dass er das Werk am Ende nur auszugsweise verstehen kann.
Im übertragenen Sinne, oder wenn man davon ausgeht, dass Nietzsche hier mit Ellipsen gearbeitet hat, bedeutet es aber nur soviel wie:
Ein Buch für Alle [die es bevorzugen, in Widersprüchen zu baden und diese in unaufgelöstem Zustand einzufrieren, während sie noch selbst im Bade liegen] und Keinen [denn es wird wohl niemandem gelingen, sich selbst in seinem Bade einzufrieren und dabei noch zu lesen].