Lesung von Stéphane Hessel: Empört Euch!
Am 27. Februar starb Stéphane Hessel im Alter von 95 Jahren. Als ich das in den Nachrichten las, war meine erste Reaktion der Blick in den Bibliothekskatalog. Was hat dieser Mann, der 1917 in Berlin geboren wurde, sich unter General de Gaulle dem „Freien Frankreich“ angeschlossen, die Inhaftierung im KZ Buchenwald überlebt hatte und der nach dem Krieg an der Erstellung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt gewesen war, eigentlich geschrieben? Lyrik, essayistische Prosa und u. a. im Alter von 93 Jahren den kurzen politischen Text Empört Euch! Ein politischer Aufruf? „Muss dass sein?“, dachte ich.
Aber die Lesung im Theatersaal des Freizeitheims Linden machte eines sehr deutlich: Es geht Hessel nicht darum, für bestimmte politische Positionen zu motivieren oder Parteilichkeit von seinen Lesern einzufordern. Der Leser muss die Ausrichtung Hessels, die durch seine persönliche Erfahrung ebenso geprägt ist wie durch seine Auseinandersetzung mit Hegel, Benjamin, Sartre u. a., nicht zwingend teilen, um zu verstehen, worum es ihm geht. Hessel legt sein eigenes Engagement dar und ruft die Jungen (wobei sich in Anbetracht seines Alters wohl jeder angesprochen fühlen kann) auf, die Augen offen zu halten für Anlässe eigenen Engagements. In seinem Appell für Widerstand gegen Verletzung der Menschenrechte sind ausdrücklich Ablehnung von Gewalt und von Terrorismus inbegriffen. Er hält aber auch fest an einem unverklärten Blick auf problematische Situationen wie den Konflikt im Nahen Osten, der ihn besonders beschäftigt, und hinterfragt auch eine einseitig moralisierende Perspektive. – Weiteres ließe sich sagen, aber selbstverständlich lässt es sich noch besser selbst nachlesen…
Wie kann es sein, kam in der anschließenden Diskussion die Frage auf, dass ein über 90 Jahre alter Mann bei jungen Menschen auf offene Ohren trifft? - Vielleicht, weil er nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit eigenem Beispiel dasteht, weil er Optimismus vermittelt ohne pathetisch zu sein. Vielleicht auch, weil er nicht auf eine Betroffenheit setzt, die die junge Generation befremdet, sondern auf die eigene Verantwortung, die jeder trägt, unabhängig von der historischen Zeit und den Umständen, in denen er lebt.