Mascha Kaléko - eine "Klassikerin der Moderne"

Interview mit Jutta Rosenkranz

„Es ist eine aus Sentimentalität und Schnoddrigkeit großstädtisch gemischte, mokante, selbstironisierende Art der Dichtung, launisch und spielerisch direkt von Heinrich Heine abstammend.“, schrieb Hermann Hesse über Mascha Kaléko.

Endlich sind Werk und Briefe der deutsch-jüdischen Dichterin, deren erste Gedichtbände in den 30er Jahren eine große Leserschaft fanden, jedoch 1935 nach ihrem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer nicht länger verkauft werden durften, in einer Gesamtausgabe veröffentlicht. Nicht nur als Autorin, sondern auch als Privatperson kann man jetzt Mascha Kaléko, die im September 1938 zusammen mit ihrem zweiten Ehemann Chemjo Vinaver und dem gemeinsamen Sohn Steven nach Amerika emigrierte und erst nach 18 Jahren im Heine-Jahr 1956 nach Deutschland zurückkehrte, kennenlernen. Man „kommt ihr sehr nah“, sagt Jutta Rosenkranz im Gespräch mit Renate Müller De Paoli. Sie gab im Deutschen Taschenbuch Verlag die erste große kommentierte Gesamtausgabe heraus.

Jutta Rosenkranz
Jutta Rosenkranz

Frau Rosenkranz, in dem Gedicht „Kleine Zwischenbilanz“ schreibt Mascha Kaléko in der ersten Strophe:

„Was wird am Ende von mir übrig bleiben?

– Drei schmale Bände und ein einzig Kind.

Der Rest, es lohnt sich kaum, es aufzuschreiben.

Was ich zu sagen hab, sag ich dem Wind.“


Sie haben ihr offensichtlich ein „Schnippchen“ geschlagen. Das von Ihnen herausgegebene Gesamtwerk umfasst nun vier dicke Bände. Können Sie sich Mascha Kalékos Reaktion auf die Gesamtausgabe vorstellen, wenn sie sie in Händen halten könnte?


Die vier Bände der Mascha-Kaléko-Gesamtausgabe umfassen insgesamt 4.015 Seiten, d. h. jeder Band hat rund tausend Seiten. Ich glaube und hoffe, dass Mascha Kaléko sich sehr über diese Ausgabe gefreut hätte, denn diese Veröffentlichung bedeutet, dass sie nun eine Klassikerin der Moderne ist und ihr Werk auch im 21. Jahrhundert gelesen und geschätzt wird.

2007 zum 100. Geburtstag ist Ihre Biografie über Mascha Kaléko erschienen – meines Wissens auch die erste Biografie, die publiziert wurde. Haben Sie den Entschluss, das längst überfällige Gesamtwerk dieser großen deutsch-jüdischen Dichterin herauszubringen, während Ihrer Arbeit an der Biografie gefasst?

Nach dem Erfolg meiner Kaléko-Biografie ist der Deutsche Taschenbuch Verlag an mich herangetreten und hat mich gefragt, ob ich die Herausgabe der Gesamtausgabe übernehmen würde.

Wie sind Sie vorgegangen? Sie haben ja über den Nachlass hinaus, der im Literaturarchiv in Marburg aufbewahrt wird und den Sie über Jahre erschlossen haben, Texte und Briefe entdeckt. Selbst die zweite Auflage der Gesamtausgabe ist 2013 noch um Texte ergänzt worden. Wie und wo haben Sie gesucht?

Ich habe die Tageszeitungen der 30er Jahre systematisch durchsucht, d. h. Tag für Tag in diversen Archiven recherchiert. Dabei habe ich – vor allem in der Jüdischen Rundschau – Gedichte und Artikel entdeckt, von denen niemand wusste, da sie im Nachlass nicht erhalten sind. Außerdem haben auch einige Zeitzeugen, d. h. Privatpersonen, Texte und Briefe von Mascha Kaléko aufbewahrt und für die Gesamtausgabe zur Verfügung gestellt. Die Werkausgabe enthält rund 150 bisher nicht publizierte Werke der Dichterin. Auch ihre Werbetexte und Entwürfe aus ihrem Notizbuch werden jetzt erstmals veröffentlicht – das sind interessante Neuentdeckungen, die die Leserinnen und Leser machen können.

Im deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar sind etwa 1.000 Briefe von Mascha Kaléko erhalten. Darüberhinaus habe ich gezielt in anderen Archiven, in Nachlässen von Schriftstellerkollegen und auch bei Privatpersonen nach weiteren Briefen von Mascha Kaléko gesucht und so noch über 250 bisher unbekannte Briefe entdeckt. Diese Briefe haben auch die für sie typische Mischung aus Melancholie und Wortwitz. In den Briefen kann man Mascha Kaléko nicht nur als Autorin, sondern auch als Mutter, Freundin, Ehefrau, als Privatperson kennenlernen und kommt ihr sehr nah. Gerade in den letzten Jahren, als es ihr nach dem Tod ihres Sohnes und ihres Mannes nicht gut ging, aber auch in den beeindruckenden Briefen aus dem Jahr 1956, als sie das erste Mal wieder in Deutschland und Berlin war. Wie sie das Berlin der 50er Jahre schildert, die vielen kleinen Details, das macht die Briefe lesenswert. Man sieht Mascha Kaléko in allen Facetten.

Neben dem literarischen Werk mit rd. 700 Texten, davon 150 bisher Unbekannte, enthält die Werkausgabe 1.400 bisher noch nie veröffentlichte Briefe in zwei Bänden, wobei dies, wie Sie schreiben, etwa nur einem Drittel der tatsächlichen Korrespondenz Kalékos entspricht. Was ist mit dem Rest passiert?

Dabei handelt es sich um eine Schätzung; man kann nicht genau sagen, wie viele Briefe Mascha Kaléko im Laufe ihres Lebens geschrieben hat. Von vielen Briefen hat sie keine Durchschläge gemacht, andere hat sie vernichtet. Und auch die Brief-Adressaten bzw. deren Erben haben ihre Briefe meist nicht aufgehoben.

Auffällig ist, dass aus den 20er, den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts fast keine Briefe vorhanden sind. Wie ist das zu erklären?

Vermutlich hat Mascha Kaléko damals noch keine Briefe aufbewahrt bzw. keine Durchschläge ihrer Briefe angefertigt. Im Nachlass finden sich aus den frühen Dreißigerjahren nur einige Leserbriefe, die sie offensichtlich mit in die Emigration genommen hat. Einige Briefe aus den frühen Jahren habe ich in Nachlässen anderer Autoren gefunden.

Herausragend und bewegend finde ich ihre Briefe an ihren Mann Chemjo Vinaver, insbesondere wie sie ihm das Nachkriegsdeutschland schildert, in das sie 1956 nach 18 Jahren der Emigration in den USA zum ersten Mal zurückkehrt. Wie sehen Sie diese Beziehung zu ChemjoVinaver? Welche Rolle spielt er in Bezug auf das künstlerische Schaffen Mascha Kalékos?

Mascha Kaléko und Chemjo Vinaver führten eine ungewöhnliche Künstlerehe. Ich glaube, sie haben sich gegenseitig unterstützt. Man kann bei der Lektüre ihrer Briefe manchmal den Eindruck gewinnen, dass ihr sein Werk wichtiger war als ihr eigenes. Andererseits hat sie aber auch erwähnt, dass sie darunter gelitten hat, wenn sie ihre eigenen beruflichen Pläne nicht verfolgen konnte, weil er krank war und ihre Hilfe brauchte.

Mascha Kaléko
Mascha Kaléko

Seit den 30er Jahren hat Mascha Kaléko eine große heimliche „Fangemeinde“. Besonders junge Menschen scheinen einen Zugang zu ihr zu finden. Was ist das „zeitlose“ und doch so „gegenwärtige“ an dieser Lyrikerin?

Ihre Gedichte sind zeitlos, weil sie die großen Themen Liebe, Hoffnung, Tod und Zweifel aber auch die kleinen Dinge des Alltags schildern. Ihre Verse sind einfach, aber nicht simpel. Das ist das Geheimnis ihrer Dichtung. Man liest ihre Gedichte und versteht sie sofort, deshalb wird sie auch von vielen geschätzt, die sonst mit Lyrik wenig anfangen können. Aber ihre Gedichte haben oft einen doppelten Boden, sind reich an Anspielungen und Bezügen zur Literatur, Philosophie, Religion. Wer sich dafür interessiert, findet im Kommentar Hinweise zum geschichtlichen und kulturellen Hintergrund und kann z. B. entdecken, welche Bücher und Autoren Mascha Kaléko besonders wichtig waren.

Es verblüfft mich immer wieder, wie Mascha Kaléko mit der ihr eigenen sprachlichen Schärfe den vorherrschenden Zeitgeist anprangert und den Finger in die Wunden der Gesellschaft legt. Ich denke nur an zwei Beispiele, z. B. an die erste Strophe ihres Gedichtes „Gebet“:

„Es wohnen drei in meinem Haus –

Das Ich, das Mich, das Mein.

Und will von draußen wer herein,

So stoßen Ich und Mich und Mein

Ihn grob zur Tür hinaus.“

Oder die Strophe aus „24 Zeilen Herbst“:

„Herrgott, bewahr uns vor der Gicht,

Gib, dass mein Herz nicht rostet.

Um andern Reichtum bitt ich nicht,

Weil Geld uns zuviel kostet.“


– Gedichte, die sie nach der Flucht vor den Nationalsozialisten in den USA in der Emigration geschrieben hat. Was fasziniert Sie persönlich an Mascha Kaléko und wie würden Sie „MK“, wie sich selbst bezeichnet hat, jemandem, der die Dichterin bisher nicht kennt, beschreiben?


Ich habe Mascha Kaléko vor über dreißig Jahren durch ihr Gedicht "Memento" entdeckt, dessen letzte Zeilen lauten:

"Bedenkt: den eignen Tod den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muß man leben."

Diese Worte haben mich so beeindruckt, dass ich neugierig wurde und mehr über die Autorin erfahren wollte.
Mascha Kaléko ist eine Dichterin, die zu entdecken sich wirklich lohnt, weil viele Gedichte die Leserinnen und Leser direkt ansprechen, da sie – mit ihrer besonderen Mischung aus Reim, Witz und Melancholie – die großen und kleinen Alltagsmomente so beschreibt, dass man sich bei der Lektüre verstanden und bereichert fühlt. Das macht ihre Aktualität und Zeitlosigkeit aus.


Frau Rosenkranz, wir danken Ihnen und wünschen dieser Gesamtausgabe viele Leserinnen und Leser.

Vita von Jutta Rosenkranz:


Jutta Rosenkranz, geboren in Berlin, studierte Germanistik und Romanistik und lebt als freie Autorin, Journalistin und Dozentin für Literatur in Berlin. Sie hat zahlreiche literarische Essays und Autoren-Porträts für Printmedien und den Hörfunk geschrieben und ist Herausgeberin mehrerer Lyrik-Anthologien, u. a. „Letzte Gedichte – Dichter der Welt nehmen Abschied vom Leben“ (München 2007) und „Berlin im Gedicht“ (Husum 2006). Anlässlich des 100. Geburtstags von Mascha Kaléko erschien 2007 bei dtv ihre Biografie über die Dichterin, die 2012 durch eine aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe ergänzt wurde. Sie ist Kuratorin der Ausstellung „Mascha Kaléko – Mein Heimweh hieß Savignyplatz“, die 2007/2008 im Literaturhaus Berlin zu sehen war und nun Herausgeberin der 2012 bei dtv erschienenen ersten großen kommentierten Mascha-Kaléko-Gesamtausgabe.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Dienstag, 27. August 2013

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