Albrecht von Lucke im Interview

Europa scheint am Scheideweg zu stehen. Der Euro-Raum droht „im Zuge der Krise immer mehr aus einem Projekt der Entnationalisierung zu einem Prozess der Renationalisierung zu werden“ erklärt der Publizist, Jurist und Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke im Gespräch mit Renate Müller De Paoli und warnt: „Wir dürfen bei alledem nie vergessen, dass gerade die südeuropäischen Krisenländer – Griechenland, Spanien und Portugal – eine noch kürzere demokratische Tradition haben als die Bundesrepublik.“

Herr von Lucke, welche Zukunft sehen Sie für Europa. Das Argument, der Zusammenschluss Europas habe seit Ende des Zweiten Weltkriegs den Frieden gesichert, Europa sei zu einem Modell für die Welt geworden, und zeige, wie aus Feindschaften und Kriegen zwischen Nationen tragende Demokratien entstehen können, scheint die Bürger nicht mehr so recht zu überzeugen, oder?

Das ist richtig, die Entwicklung seit Beginn der Euro-Krise hat große Skepsis gegenüber dem beschrittenen Kurs hervorgerufen, und zwar in ganz Europa. Dabei ist jedoch eines immer genau zu unterscheiden: Das Projekt der Europäischen Union als einer geschichtlich, aus den verheerenden kriegerischen Erfahrungen der letzten Jahrhunderte gewachsenen Wertegemeinschaft wird zum Glück noch immer nicht wirklich in Frage gestellt. Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem Projekt der Euro-Gemeinschaft als einer Währungsunion. An dieser sind in den letzten Jahren zu Recht massive Zweifel entstanden, vor allem aus zwei Gründen: erstens, weil in ihr Länder mit höchst unterschiedlicher ökonomischer Leistungsfähigkeit zusammengefasst werden, und zweitens, weil der einheitliche Euro speziell den schwächeren Ländern die Möglichkeit genommen hat, durch Abwertung der eigenen nationalen Währung die eigene Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.

In vielen Ländern wird inzwischen heftig Stimmung gegen Europa gemacht und der Ruf nach „neuer“ Nationalstaatlichkeit wird immer lauter. Verbirgt sich dahinter nur schnöder Populismus oder stehen wir vor einem gefährlichen Erstarken nationalistischer Bewegungen? Welches Gewicht geben Sie diesen Entwicklungen?

Ich glaube, hier liegt in der Tat das Hauptproblem der aktuellen Entwicklung: Tatsächlich droht die Europäische Union – und speziell der Euro-Raum – im Zuge der Krise immer mehr aus einem Projekt der Entnationalisierung zu einem Prozess der Renationalisierung zu werden. Und zwar sowohl im Süden als auch im Norden: Im Süden, siehe etwa Griechenland und jetzt auch Zypern, nimmt die Wut, ja der Hass gegen die angeblichen „Bürokraten in Brüssel“ immer mehr zu, aber auch gegen die reichen Nordländer, Deutschland an der Spitze, weil diese als die Verursacher der schmerzvollen Sparmaßnahmen gesehen werden. Der Norden dagegen verliert angesichts dieser Proteste immer mehr die Bereitschaft, Solidarität und Hilfe zu leisten (etwa durch Übernahme hoher Risiken, Bürgschaften etc.). In der Frage der europäischen Integration sind wir heute an einem entscheidenden Punkt angelangt, längst ist die Krise weit mehr als eine der Währung. „Die Spannungen, die in den letzten Jahren die Euro-Zone begleiten, tragen bereits die Züge einer psychologischen Auflösung Europas“, brachte es der italienische Ex-Ministerpräsident Mario Monti vor Kurzem auf den Punkt. Wenn aber der Euro zu einem Faktor des europäischen Auseinanderdriftens wird, dann drohen auch die Grundlagen des wichtigeren, des politischen Projekts Europa zerstört zu werden.

Bisher hat die Politik auf die Finanz- und Wirtschaftskrise nur mit drastischer Sparpolitik reagiert. Ein Weg, der schon einmal in der Weimarer Republik beschritten wurde, zur Entwurzelung von Millionen von Menschen und zum Ende der Weimarer Republik führte – mit all den Konsequenzen, deren wir gerade zum 80. Jahrestag von Hitlers Machtantritt gedacht haben. Kann die Enttäuschung und Verzweiflung über diesen Sparkurs Europa auseinandertreiben – in neue Nationalismen?

Sie kann es nicht nur, sie tut es bereits, wie wir es derzeit bei den großen Demonstrationen in allen südlichen Ländern erleben (aber auch bei den infamen Kampagnen etwa der „Bild“-Zeitung gegen die „faulen Griechen“). Die Lage, speziell in Griechenland, aber nicht nur dort, erinnert tatsächlich verheerend an Weimarer Zeiten: Die Arbeitslosigkeit wächst dramatisch, die Perspektivlosigkeit ebenso; gleichzeitig schießen rechtsradikale, postfaschistische Parteien wie die „Goldene Morgenröte“ in die Höhe, die mit Demokratie gar nichts im Sinn haben. Wir dürfen bei alledem nie vergessen, dass gerade die südeuropäischen Krisenländer – Griechenland, Spanien und Portugal – eine noch kürzere demokratische Tradition haben als die Bundesrepublik.

Welche Veränderungen sind Ihrer Meinung nach notwendig, um die politische Vision eines vereinten Europas doch noch Wirklichkeit werden zu lassen? Welche Rolle könnte Deutschland dabei spielen ohne wieder gleich in die Rolle des „arroganten“ Lehrmeisters zu schlüpfen?

In den letzten zehn Jahren hat sich vor allem eines gezeigt: dass es ohne eine Verringerung der großen wirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euro-Raum kein stabiles Europa geben wird. Sparen allein wird dabei nicht helfen, im Gegenteil. Heute geht es daher um die Frage, wie die taugliche Alternative zu einem bloßen Spardiktat aussehen kann und wer die Lasten zu tragen hätte. Das aber nimmt gerade auch die Starken in die Pflicht. Wenn es denn richtig ist, dass jedes Land für seine Fehler haften muss, dann gilt das natürlich auch für Deutschland. Es war bekanntlich nicht zuletzt (auch) die permanente deutsche Lohnsenkungs- und Unterbietungspolitik der letzten zehn Jahre, die für die Ungleichgewichte maßgeblich verantwortlich ist. Deshalb muss Deutschland erstens bereit sein, einen Teil seiner Überschüsse wieder in Europa zu investieren, und zweitens im eigenen Land endlich Löhne durchsetzen, die den Produktivitätsfortschritten entsprechen, um damit den Mitbewerbern in Europa eine echte Chance zu geben. Das allerdings wird (und muss) unweigerlich zu Lasten auch des deutschen Exportweltmeisters gehen. Letztlich verbirgt sich dahinter ein völlig anderes Konzept von Europa als das der Kanzlerin. Gegen den Nationalegoismus der Merkelschen Spar- und Unterbietungspolitik, die inzwischen halb Europa gegen Deutschland aufgebracht hat, benötigen wir die Alternative eines anderen, solidarischen Europa-Modells. Nur mit Hilfe einer derartigen Politisierung der Debatte wird auch die erforderliche Zustimmung für das Projekt Europa zu stärken sein.

Inzwischen scheint sich ja zumindest in einigen Kreisen die Einsicht zu verbreiten, dass Haushalte nur bei entsprechendem Wachstum gesunden können. Dennoch sehen viele Bürger in solchen Diskussionen über Investitionsprogramme auch nur noch kraftlose Lippenbekenntnisse. Welche Chance geben Sie persönlich diesen Forderungen nach einem Marshallplan für Europa?

Leider sehe ich gegenwärtig (noch) nicht allzu viele Chancen. Seit Beginn der Griechenlandkrise leidet die Debatte vor allem darunter, dass die Politik sich als Getriebene und Erfüllungsgehilfe der Finanzmärkte präsentiert. „Too big to fail“ – zu groß, um pleite zu gehen – war von Beginn an die Parole, mit der die Banken sich darauf verlassen konnten, von den Staaten in jedem Fall gerettet zu werden; koste es, was es wolle. Auch die „Rettung“ der Staaten war letztlich eine zu Gunsten der Banken, die ansonsten ihre faulen Staatspapiere verloren hätten – mit der Gefahr ihrer Pleite. Das bedeutete aber in keinster Weise, dass die Bürger in den am stärksten betroffenen Staaten von dieser Bankenrettung profitiert hätten, ganz im Gegenteil, wie wir gegenwärtig in Griechenland, Italien und Spanien sehen, wo die Arbeitslosigkeit weiter explodiert. Was wir daher bräuchten, sind einerseits massive Wachstumsimpulse, etwa in Form eines neuen „Marshallplans“ gegen die massenhafte Arbeitslosigkeit. Andererseits brauchen wir aber auch europaweite Vermögens- und Kapitalabgaben, mit denen die Profiteure der Boom-Jahre zur Kasse gebeten werden – von Nord bis Süd, von Berlin bis Athen und Nikosia. Denn längst sprengt die Gewinner-Verlierer-Dimension jeden nationalen Rahmen. Anstelle des Merkelschen Spar- und Konkurrenzeuropas zugunsten der Kapitalbesitzer (nicht nur in den starken Staaten) bedarf es daher eines neuen Solidaritätseuropas zugunsten der europäischen Arbeitnehmer. Hier, in der Solidaritätsfrage, könnte in der Tat die Geburtsstunde einer neuen „europäischen Schicksalsgemeinschaft“ (Jürgen Habermas) liegen. Nur als eine solche wird die Europäische Gemeinschaft ihre wohl größte Krise nach 1945 überwinden können.

Vita: Albrecht von Lucke


Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, ist politischer Publizist, Jurist und Politikwissenschaftler.

Seit 1989 lebt und arbeitet er in Berlin, seit 1999 ist er als Publizist tätig. 2003 wurde er Redakteur der politischen Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de).

Neben seiner Tätigkeit für die „Blätter“ schreibt von Lucke auch für diverse andere Zeitungen bzw. Zeitschriften und für den Rundfunk, für den er politische Kommentare beisteuert oder an Diskussionen teilnimmt (u. a. ARD-Presseclub, Phönix-Runde, Bayern 2, WDR 3 Mosaik, WDR 5 Politikum, NDR Kultur und SWR2 Forum).

Von Luckes Standpunkt ist einem aufgeklärten linken politischen Spektrum zuzurechnen. In seinen Beiträgen zur deutschen Innen- und Außenpolitik analysiert er sehr grundlegend die Tendenzen in den aktuellen politischen Ereignissen und ordnet das politische Tagesgeschehen in die größeren zeitgeschichtlichen Zusammenhänge und Entwicklungen ein, so auch in seinen beiden Büchern „68 oder neues Biedermeier: Der Kampf um die Deutungsmacht“ (2008) und „Die gefährdete Republik: Von Bonn nach Berlin. 1949 - 1989 – 2009“ (2009).


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Freitag, 22. März 2013

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