Sabine Baun im Interview

Sabine Baun, Direktorin der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Deutschland im Interview

„In Europa liegt die durchschnittliche Arbeitslosenquote bei den Unter-25jährigen bei dramatisch hohen 22,6 Prozent“, stellt Sabine Baun, seit Juni 2011 Direktorin der Vertretung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für Deutschland in Berlin, im Gespräch mit Renate Müller De Paoli über Ursachen und Auswirkungen der Jugendarbeitslosigkeit fest – eine untragbare Entwicklung, die schnellstens einen Kurswechsel fordert.

Sabine Baun
Sabine Baun

Frau Baun, die ILO verzeichnet in ihrem letzten Arbeitsmarktbericht einen Besorgnis erregenden drastischen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit weltweit. Wie sehen die Zahlen konkret aus?

Weltweit sind fast 75 Millionen Jugendliche arbeitslos – beinahe vier Millionen mehr als vor der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise. Das bedeutet, dass bereits jetzt mehr als jeder dritte Arbeitslose auf der Welt zwischen 15 und 24 Jahren ist. Und diese Zahlen sind die offiziellen Statistiken. In Wahrheit liegt die Zahl noch deutlich höher. Aber viele Jugendliche haben aufgegeben und sich enttäuscht und entmutigt zurückgezogen. Sie tauchen in den Statistiken gar nicht mehr auf.

Ist dies eine plötzliche Entwicklung oder schon längerfristig angelegt? Wo ist die Ursache für diese Entwicklung?

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Situation in vielen Teilen der Welt natürlich deutlich verschlechtert. Neu ist, dass die Jugendlichen in den Industrieländern besonders stark betroffen sind, gerade auch diejenigen mit guter Ausbildung und hohen Qualifikationen. Ein Universitätsabschluss oder eine gute Ausbildung sind längst keine Garantien mehr für Beschäftigung. Wenn Sie sich die Situation in Griechenland und in Spanien ansehen, erkennen Sie die gesamte Dramatik. Dort ist inzwischen jeder zweite Jugendliche arbeitslos.

Wie sieht es in Europa im Vergleich zum Rest der Welt aus?

Die Entwicklungen sind nach der neuesten Studie der ILO zur Jugendbeschäftigung in beinahe allen Weltregionen besorgniserregend – nur in Südostasien und Lateinamerika geht die Jugendarbeitslosigkeit leicht zurück.

In Europa liegt die durchschnittliche Arbeitslosenquote bei den Unter-25jährigen bei dramatisch hohen 22,6 Prozent, also noch deutlich über dem Schnitt von 18 Prozent in den Industrieländern insgesamt. In Europa gibt es jedoch eine breite Spreizung. Deutschland geht es mit 7,9 % relativ gut im Vergleich zu Griechenland und Spanien mit über 50 Prozent.

Warum sind besonders junge und oft auch gut ausgebildete Menschen, die eigentlich die Zukunft einer Gesellschaft bilden, davon betroffen?

Junge Menschen sind in der Regel die letzten, die eine Anstellung finden und die ersten, die wieder entlassen werden. Das heißt, zum einen ist der Übergang von der Schule ins Arbeitsleben schwierig, weil viele Unternehmen ungern junge Menschen ohne oder mit wenig Berufserfahrung einstellen. Zum andern werden sie auch häufiger und schneller wieder entlassen, teilweise wegen der geringeren Erfahrung und weil auch weniger Kosten in Form von Abfindungen anfallen. Hinzu kommt, dass gerade in den Industrieländern immer mehr junge Leute nur mit befristeten Verträgen eingestellt werden, und diese sind dann in einem Konjunkturabschwung besonders schnell auch wieder weg.

Ist nicht besonders für junge Menschen diese Perspektivlosigkeit, de facto ja eine Lebensperspektivlosigkeit, ein tiefer Angriff auf ihre Identität, ihre Persönlichkeit und ihre Würde? Welche langfristigen Auswirkungen sehen Sie für unsere Gesellschaft?

Man muss sich nicht wundern, wenn Menschen, denen am Anfang ihres Berufslebens vermittelt wird, dass sie nicht gebraucht werden, sich enttäuscht oder wütend von der Gesellschaft abwenden – mit all den negativen Folgen und Auswirkungen, die das für ein demokratisches Gemeinwesen haben kann. Nicht nur aus ökonomischen Gründen ist es deshalb so wichtig, diesen jungen Menschen eine Perspektive zu bieten. Sie aufzugeben und eine verlorene Generation sich selbst zu überlassen, hätte fatale gesellschaftliche Auswirkungen.

Die Jugendlichen in den Vorstädten von Paris, London usw. haben ihre Verzweiflung schon auf ihre Art zum Ausdruck gebracht. Sind die brennenden Vorstädte ein „Zeichen an der Wand“? Steht Europa ein „sozialer Unruhesturm“ ins Haus, wenn nicht schnellstens ein Kurswechsel eintritt?

Es gibt auch andere Beispiele. Die Occupy-Bewegung etwa zeigt, dass es auch friedlich gehen kann. Hier zeigen junge Menschen, dass sie sich einmischen wollen, gehört werden wollen und über ihre Ideen, die sie von der Welt und der Gesellschaft haben, diskutieren wollen.

Inzwischen häufen sich Berichte, dass z. B. die Selbstmordrate bei Jugendlichen in europäischen Ländern steigt. Sehen Sie einen Zusammenhang?

Ich habe keine Erkenntnisse über mögliche kausale Zusammenhänge. Klar ist: Junge Menschen sind in hohem Maße von der Arbeitslosigkeit betroffen. Sie werden – wenn sie arbeiten – schlechter bezahlt, arbeiten häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen und mit zunehmender Zahl im informellen Sektor. Sie gehören auch in hohem Maße zu der Gruppe von Menschen, die trotz Arbeit arm sind und nicht von ihrer Arbeit leben können – gerade in den Entwicklungsländern. Das bedeutet für die Betroffenen ein hohes Maß an Perspektivlosigkeit.

Welche Schritte müssten aus Sicht der ILO eingeleitet werden? Welche Rolle kann die ILO dabei spielen?

Deutschland ging unter anderem dank seines dualen Ausbildungssystems mit einer viel geringeren Jugendarbeitslosigkeitsquote aus der Krise hervor. Investitionen in Bildung und Ausbildung, Förderung des Unternehmergeistes und Stärkung der Arbeitsvermittlung sind der Schlüssel zur Bewältigung der aktuellen Jugendbeschäftigungskrise in vielen Teilen der Welt.

Die Jugendbeschäftigungskrise wird auch ein Schwerpunkt der diesjährigen Internationalen Arbeitskonferenz der ILO jetzt im Juni sein. Und weil es wichtig ist, nicht nur über, sondern auch mit den Betroffenen zu reden, hat die ILO Ende Mai in Genf ein Jugendbeschäftigungsforum veranstaltet, an dem über hundert junge Gewerkschaftler, Unternehmer, Verteterinnen und Vertreter von ganz unterschiedlichen Jugendorganisationen aus allen Teilen der Welt teilgenommen haben.

Und auch die G20 haben eine Task Force für Beschäftigung eingesetzt, die sich zurzeit mit der Jugendarbeitslosigkeit befasst. Es wird darauf ankommen, die Ergebnisse konsequent umzusetzen.

Die ILO unterstützt ganz konkret über 60 Länder bei der Entwicklung und Einführung von Jugendbeschäftigungsprogrammen. Und weitere 50 Staaten haben Unterstützung bei der ILO nachgefragt.

Frau Baun, wir danken Ihnen.

Vita von Sabine Baun


Sabine Baun, geboren 1959 in Kassel, ist seit Juni 2011 Direktorin der Vertretung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für Deutschland in Berlin.

Davor war sie Unterabteilungsleiterin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, zuständig für die Europäischen Fonds für Beschäftigung.
Vor ihrem Wechsel ins Bundesarbeitsministerium 2007 war sie acht Jahre Pressesprecherin der Bundesministerin für Bildung und Forschung und hat dort die Leitungsunterabteilung geführt.
Seit 1990 arbeitet sie in der öffentlichen Verwaltung, erst als Pressesprecherin des niedersächsischen Ministers für Bundes- und Europaangelegenheiten und Referatsleiterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Niedersächsischen Landesvertretung in Bonn, ab 1994 in gleicher Funktion für den Niedersächsischen Ministerpräsidenten.
Sabine Baun hat an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Publizistik studiert und 1985 mit einem Master abgeschlossen.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Donnerstag, 31. Mai 2012

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