„Deutschland misshandelt seine Kinder"

Gespräch mit Prof. Dr. Michael Tsokos

„Deutschland misshandelt seine Kinder“ so das Warnsignal in der soeben veröffentlichten Streitschrift der Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat: Mehr als 200.000 Kinder werden in Deutschland pro Jahr misshandelt. Und jedes misshandelte Kind ist eines zu viel. Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli beschreibt Prof. Michael Tsokos, seit 2007 Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Charité und des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin, die wichtigsten Konstruktionsfehler im System des Kinder- und Jugendschutzes.

Prof. Michael Tsokos
Prof. Michael Tsokos (Foto:FinePic)

Herr Prof. Tsokos, 500 Kinder werden täglich in Deutschland misshandelt, das entspricht etwa 25 Schulklassen, eine unglaubliche Vorstellung und Entwicklung. Sind die Täter einer bestimmten sozialen Schicht zuzuordnen? Wer sind die Täter?

Kindesmisshandlung ist ein gesellschaftliches Phänomen, das alle sozialen Schichten betrifft. Die Täter können auch nicht etwa einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit oder Religion zugeordnet werden. Die Täter sind fast ausschließlich die Eltern, Stiefeltern oder neuen Lebenspartner eines Elternteils, seltener (aber auch) sind Pflegeeltern die Täter.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Täter oft „die Hölle der eigenen Misshandlungserfahrungen in sich tragen“. Wie ist es zu erklären, dass Opfer von Misshandlungen später selbst zu Tätern werden?

Opfer von Misshandlungen werden später selbst häufiger zu Tätern (in diesem Fall zu Kindesmisshandlern) als der Durchschnitt, da sie aus eigener Erfahrung gelernt haben, dass man seinen Willen mit Gewalt gegenüber Schwächeren (in diesem Fall die Kinder) durchsetzen kann. Das frühere Opfer wird zum Täter, da ihm diese Verhaltensweisen in seiner eigenen Entwicklungsphase, der Kindheit, vorgelebt wurden. Aus der früheren Ohnmacht gegenüber dem Misshandler wird nun eine Machtdemonstration gegenüber der nächsten Generation von Opfern.

Warum fallen Misshandlungen – z. B. an kleinen Säuglingen –oft nicht früher auf; sie werden doch von Kinderärzten untersucht?

Gerade die schwerste Misshandlungsform von Säuglingen, das Schütteltrauma, verläuft in der Regel äußerlich völlig spurenarm. Die Kinder zeigen keinerlei Verletzungen. Die Symptomatik entspricht der eines Kreislaufkollapses (Bewusstlosigkeit, Schnappatmung, Kreislaufschock). In der Regel werden diese Kinder allerdings nicht Kinderärzten im ambulanten Bereich vorgestellt, sondern in Kliniken der Maximalversorgung als schwer kranke kleine Patienten eingeliefert. Viele tödlich endende Fälle entgehen allerdings der richtigen Diagnose, wenn lediglich eine äußere Leichenschau durchgeführt wird (die zum Beispiel beim Schütteltrauma keinerlei äußerliche Verletzungen nachweisen wird) und aufgrund derer dann ein natürlicher Tod (zum Beispiel Plötzlicher Kindstod) angenommen wird. Ein solches Tötungsdelikt wird nie entdeckt werden.

„Deutschland misshandelt seine Kinder“
„Deutschland misshandelt seine Kinder“ so das Warnsignal in der soeben veröffentlichten Streitschrift der Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Gudda

Wieso versagen in diesem Prozess die Kontrollsysteme des deutschen Kinder- und Jugendschutzsystems in vielen Fällen so gravierend?

Zunächst ist das in Deutschland im Jahr hunderttausendfach vorkommende Phänomen der Kindesmisshandlung offensichtlich noch nicht im Realbewusstsein aller Beteiligten angekommen. „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ ist eine häufige irrige Annahme, die wir immer wieder sowohl bei Juristen, Jugendamtsmitarbeitern und in der Jugendhilfe Tätigen feststellen. Häufig werden Schutzbehauptungen der Eltern, die (zum Teil gravierende) Verletzungen von Kindern erklären sollen, vorbehaltlos und ohne kritische Nachfragen akzeptiert. Diejenigen, die tödliche Misshandlungen mitzuverantworten haben, nämlich die angeblichen Wächter des Kindeswohls, die Jugendämter, haben über ihr eigenes Fehlverhalten selbst zu befinden. Es fehlt eine unabhängige Kontrollinstanz über diejenigen, die im Bereich des Kinderschutzes tätig sind (und leider nur zu oft versagen). Auch gibt es im deutschen Kinderschutzsystem keinerlei Aspekte von Qualitätskontrolle, was schon ein Skandal an sich ist. Hier kann jeder machen, was er will – so scheint es jedenfalls häufig.

Wo sehen Sie den Hauptkonstruktionsfehler im System, immerhin geben wir nach Ihren Aussagen 7,5 Milliarden € für den Kinderschutz aus?

Einer der Hauptkonstruktionsfehler im System ist, dass Qualitätssichernde Maßnahmen im deutschen Kinderschutzsystem überhaupt nicht existieren. Es gibt keine Evidenz-basierten Überprüfungen, ob Handlungen überhaupt effektiv sind und in irgendeiner Form tatsächlich zum Kindeswohl beitragen. So ist auch zu erklären, dass 7,5 Milliarden Euro jährlich für den Kinderschutz einfach so „verpulvert“ werden und am Ende jedes Jahres die Polizeiliche Kriminalstatistik immer noch 160 durch Misshandlungen getötete Kinder aufweist. Es kann nicht sein, dass Freie Träger, die in der Jugendhilfe tätig sind, in direkter finanzieller Abhängigkeit zum Jugendamt stehen. Es kann auch nicht sein, dass mit einem Personalschlüssel von zum Teil einem Mitarbeiter auf 100 Fälle in Jugendämtern gearbeitet werden muss. Das heißt, dass von den 7,5 Milliarden Euro nicht genug dort ankommt, wo es benötigt wird (nämlich zum Beispiel in einer Aufstockung des Personals).

Was müsste die Politik also ändern? Was sind Ihre Hauptforderungen, um das Kindeswohl in Deutschland optimal zu schützen?

Als erstes müsste die Politik überhaupt einmal aufwachen und nicht nur immer mit politischer Flickschusterei und hohlen Lippenbekenntnissen antworten, wenn irgendwo in Deutschland wieder mal ein Kind unter Aufsicht des zuständigen Jugendamtes durch Misshandlung getötet wurde und ein Aufschrei durch die Medien geht. Es müsste endlich Politiker geben, die sich tatsächlich dem Kindeswohl verschreiben und nicht nur darauf warten nach einer mehr oder weniger erfolgreichen Legislaturperiode in der Industrie einen hoch dotierten Vorstandsposten zu bekommen. Wir brauchen eine Agenda, die das Kinderschutzsystem in Deutschland komplett umkrempelt. Aber dazu fehlt es nach meiner jetzigen Wahrnehmung an politisch motivierten Akteuren. Solange die Politiker uns im Stich lassen, werden jede Woche, Jahr für Jahr, Kinder in Deutschland zu Tode gequält, zu Tode geschüttelt und zu Tode misshandelt.

Herr Prof. Tsokos wir danken Ihnen.

Vita: Prof. Dr. Michael Tsokos


Prof. Dr. Michael Tsokos, Jahrgang 1967, leitet seit 2007 das Institut für Rechtsmedizin der Charité und das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. Zuvor war er als Professor im Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg tätig, wo er 2000 die Anerkennung zum Facharzt für Rechtsmedizin erlangte und sich 2001 für das Fach Rechtsmedizin habilitierte.
Michael Tsokos ist als rechtsmedizinischer Experte im In- und Ausland tätig. Er ist Herausgeber und Mit-Herausgeber mehrerer wissenschaftlicher nationaler und internationaler rechtsmedizinischer Fachzeitschriften, Autor mehrerer Fachbücher sowie dreier populärwissenschaftlicher Sachbücher und unter anderem Träger des Wissenschaftspreises der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Mittwoch, 02. April 2014

"Deutschland misshandelt seine Kinder"

Gespräch mit Prof. Dr. Michael Tsokos

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