„Die fremde Seele ist ein dunkler Wald …"
„Mehr Sensibilität, mehr Hinhören, mehr Empathie …“ erhofft sich Reimer Gronemeyer, Theologe, Soziologe und Vorsitzender der Aktion Demenz e. V. im Umgang für Menschen mit Demenz.
Er war u. a. an einem Forschungsprojekt der Universität Gießen beteiligt, das die spezielle Situation von Menschen mit Demenz in Familien mit Migrationshintergrund untersuchte. Ergebnisse und Einblicke in die besonderen Herausforderungen für betroffene Migrantenfamilien und ihre Antworten erschienen 2017 im Psychosozial Verlag Gießen unter „Die fremde Seele ist ein dunkler Wald – Über den Umgang mit Demenz in Familien mit Migrationshintergrund“. Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli sagt Reimer Gronemeyer: „Demenz ist (…) vor allem ein Teil dessen, was zum Alter gehört. Also keine Krankheit, sondern ein Aspekt der conditio humana.“
Herr Professor Gronemeyer mir fällt immer stärker auf, dass selbst jüngere Menschen schon Angst haben, an Demenz zu erkranken, quasi eine dunkle Wolke, die über jedem – egal welchen Alters – schwebt. Die kleinste Vergesslichkeit und es folgt der Satz: „Ich glaube, ich werde auch dement …“ Wo sehen Sie die Ursachen für diesen z. T. doch sehr „leichtfertigen Umgang“ mit dem Wort Demenz?
In der Medizingläubigkeit dieser Zeit, in der wir leben.
Ist diese Verunsicherung nicht auch auf die Diskussion um das Krankheitsbild und den Umgang mit Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft zurückzuführen? Ist Demenz wirklich nur ein rein medizinisches, biologisch-neurologisches Phänomen?
Demenz ist, wie selbst Naomi Feil (Erfinderin der Validation) kürzlich unterstrichen hat, vor allem ein Teil dessen, was zum Alter gehört. Also keine Krankheit, sondern ein Aspekt der conditio humana.
Sie waren an einem Forschungsprojekt der Universität Gießen beteiligt, das die Situation von Menschen mit Demenz in Familien mit Migrationshintergrund untersucht hat. In Deutschland leben 17 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, also jeder fünfte Bürger hat einen Migrationshintergrund! Eine Gruppe, die bisher in dieser Hinsicht völlig vernachlässigt wurde. Wie ist das Forschungsteam vorgegangen?
Wir haben Angehörige jener Gruppen interviewt, die einen Migrationshintergrund haben. Es haben sich sehr eindrucksvolle Gespräche ergeben, wie das Buch belegt.
Wie gehen Angehörige in Migrantenfamilien mit Demenz um? Wie schultern sie das? Gibt es auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen?
Das kann man nicht über einen Kamm scheren. Aber gerade beim türkischen oder russischstämmigen Menschen ist oft der familiale Zusammenhang stärker, ist die Sprache weniger technokratisch, ist der Schmerz formulierbar.
Was bedeutet es für die Zusammenarbeit mit Ärzten, Pflegekräften und anderen wichtigen Dienstleistern? Besonders da die „Gedächtnisspuren aus kürzer zurückliegenden Lebensabschnitten“ schneller verwischen, wie Sie schreiben, und die Betroffenen ihre Erinnerungen an ihr Leben in Deutschland und ihre Deutschkenntnisse als erstes verlieren. Ihre Muttersprache dagegen länger erhalten bleibt. Vor welchen Herausforderungen stehen beide Seiten?
Mehr Sensibilität, mehr Hinhören, mehr Empathie
Gibt es Unterschiede in der Herangehensweise und dem Umgang mit dem dementen Familienmitglied zu Familien und Angehörigen ohne Migrationshintergrund?
Die Bereitschaft, sich dem medizinischen Paradigma und der Diagnose zu unterwerfen wächst überall. Aber die Erinnerung daran, dass Demenz zum Altsein gehören kann, ist offenbar (noch) stärker als bei Menschen ohne Migrationshintergrund.
Welche Erkenntnisse und Ergebnisse sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten aus diesem Forschungsprojekt, die uns als Gesellschaft weiterbringen und in die Lage versetzen, angemessene und bessere Konzepte für den würdevollen Umgang für Menschen mit Demenz zu entwickeln?
Wir brauchen mehr Vertrauen in unsere eigenen Möglichkeiten. Professionelle Dienstleistungen sind wichtig, aber wir sind als Nachbarn, Freunde und als Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft gefordert. Da geschieht ja schon viel z. B. in den Ansätzen zur demenzfreundlichen Kommune, aber da liegen die großen zukünftigen Aufgaben und Möglichkeiten.
Herr Professor Gronemeyer, Sie erwähnen in Ihrem Buch „In Ruhe sterben – Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann“ eine Geschichte des jung verstorbenen amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace: „Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“ Was wollen Sie uns mit dieser Geschichte mit auf den Weg geben?
Ich denke die Geschichte spricht für sich, die übersetzt sich jeder selbst!
Herr Professor Gronemeyer wir danken Ihnen.
Vita: Prof. Dr. Reimer Gronemeyer
Reimer Gronemeyer, geb. 1939 in Hamburg, Dr. theol., Dr. rer. soc. und Professor em. für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen ist in den letzten Jahren vor allem an Forschungsprojekten zum Thema Hospizdienste und Palliative Care in Europa, Demenz und Kommune; Demenz und Krankenhaus, Verhältnis der Generationen beteiligt; sowie an Forschungsprojekten zum Südlichen Afrika „Vulnerable children in Namibia“ (DFG) und „Saatgut und Sozialsystem in Tansania und Namibia“ (Thyssen-Stiftung).
Reimer Gronemeyer ist Vorsitzender des Vorstandes der „Aktion-Demenz. Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz“. Die Aktion Demenz wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert. Er ist Vorstandsvorsitzender des gemeinnützigen Vereins Pallium e.V., der sich für soziale Projekte in Namibia engagiert.