Dr. Thomas Galli im Interview

… „hinter die Mauern" sehen!

Diesen Blick „hinter die Mauern“ gewährt der Jurist, Kriminologe und Psychologe Dr. Thomas Galli auch in seinem neuen Buch „Weggesperrt“. Vor mehr als vier Jahren, im März 2016, veröffentlichte Convivio mundi ein Interview mit ihm über sein Buch „Die Schwere der Schuld“. „Ich bin überzeugt, dass ich noch ein Deutschland ohne Gefängnisse erleben werde, denn letztlich ist das eine Frage der Vernunft.“, eine Überzeugung Gallis, die nach wie vor viel Zu- und Widerspruch erregt. Auch sein Buch „Weggesperrt“ stellt entscheidende Fragen und ist eine mutige Aufforderung „genauer hinzusehen: Was wollen wir mit (Freiheits-) Strafe genau erreichen, und was erreichen wir tatsächlich damit? Wen sperren wir weswegen ein? Hilft der Strafvollzug den Opfern, bessert er die Täter, vergrößert er unsere Sicherheit, schafft er Gerechtigkeit?“

Foto: Dr. Thomas Galli

Dr. Thomas Galli (copyright: Ronald Hansch)

Herr Dr. Galli, nach fast 15-jähriger Erfahrung im Strafvollzug, zuletzt als Leiter eines Gefängnisses, haben Sie um Ihre Entlassung aus dem Beamtenverhältnis gebeten. Wurde der Konflikt für Sie im System des Vollzugs zu groß, Sie waren ja auch der Vertreter Sachsens bei der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter?

Ja, auch innerhalb des Systems gab es immer stärker werdende Konflikte. Das Justizministerium war alles andere als begeistert darüber, dass ich den Sinn unserer Gefängnisse öffentlich in Frage stellte. Auch die Mehrheit der übrigen Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter sah sich nach meinem Eindruck in ihrem Selbstverständnis verletzt. Besonders erschreckend sind für mich aber die Führungskräfte im Strafvollzug, die scheinbar überhaupt keine Überzeugungen haben, sondern einfach nur möglichst stressfrei ihre bürokratische Arbeit verrichten und alle paar Jahre befördert werden wollen.

Grundsatzfragen sind in der Strafjustiz systematisch nicht erwünscht. Man bleibt in seiner eigenen Blase, in der es umso gemütlicher wird, je weiter man in der Hierarchie nach oben gestiegen ist. Fachliche Diskussionen drehen sich in der Regel darum, wie die Verwaltung der Inhaftierten noch effektiver gestaltet werden kann. Für mich wäre dies eine Verschwendung von Arbeitszeit. Vor allem aber muss man, wenn man sich eine Fähigkeit zum Mitgefühl bewahrt hat und über den eigenen Tellerrand hinausblicken kann, unseren derzeitigen Strafvollzug eigentlich in Frage stellen. Es wäre wenig glaubhaft, wenn ich dies einerseits so fundamental tue, und andererseits selbst weiter daran mitwirken und gut verdienen würde.

Es gibt wohlgemerkt auch viele sehr engagierte und soziale Menschen, die im Strafvollzug arbeiten, und dazu beitragen, das System von innen heraus menschlicher und fortschrittlicher zu gestalten. Für mich war es aber besonders wichtig, auch öffentlich die Frage nach Sinn und Unsinn unseres Strafvollzuges zu stellen. Dieser wird sich nach meiner Überzeugung nur grundlegend verändern können, wenn immer mehr Menschen „hinter die Mauern“ sehen, und erkennen können, was wir derzeit dort erreichen und was nicht. Ich habe daher meine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis beantragt. Diese wurde auch ohne Umstände bewilligt.


Berichte von Aussteigern aus der Drogen- und Neonazi-Szene zeigen immer wieder, wie die Inhaftierung – zunächst nur wegen kleinerer Vergehen – sie in die Fänge dieses Milieus getrieben hat. Das Gefängnis sozusagen als Rekrutierungsort, auch die Rückfallquoten werfen ihre Schatten auf den Resozialisierungsprozess. Und dennoch wird Ihr neues Buch „Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen“ vielleicht selbst bei denjenigen Unverständnis hervorrufen, die durchaus die Augen nicht vor den Problemen des „Weggesperrt“-Seins verschließen. Sie fordern eine Abkehr vom Prinzip Schuld und Strafe hin zum Prinzip Verantwortung und Wiedergutmachung. Überfordern Sie nicht die Opfer, Täter und Gesellschaft?

Die neuen Wege, die ich für sinnvoll halte, fordern sicher einiges an Umdenken. Wir müssen auf manche liebgewordene Illusion verzichten, und ein Stück weit auch die Scham überwinden, die vor jeder Selbsterkenntnis liegt. Ich glaube jedoch nicht, dass ich zu viel verlange. Es geht nicht darum, Gefängnisse von heute auf morgen abzuschaffen. Es geht auch nicht darum, alles abzuschaffen, was wir derzeit mit den Gefängnissen erreichen oder erreichen wollen.

Es geht vielmehr zunächst darum, genauer hinzusehen: Was wollen wir mit (Freiheits-) Strafe genau erreichen, und was erreichen wir tatsächlich damit? Wen sperren wir weswegen ein? Hilft der Strafvollzug den Opfern, bessert er die Täter, vergrößert er unsere Sicherheit, schafft er Gerechtigkeit?

Wer hinter die Schlagzeilen der (Massen-) Medien, die Resozialisierungsbehauptungen der Strafjustiz und die Sonntagsreden mancher Rechtspolitiker schaut, wird mit mir das Bedürfnis und die Bereitschaft entwickeln, Schritt für Schritt die neuen Wege zu gehen, die ich im Buch versuche aufzuzeigen.

Die Themen Kriminalität, Strafen und Gefängnisse sind sehr stark emotional besetzte Minenfelder. Mein Ziel mit dem Buch war es, behutsam einen Weg durch diese Felder zu finden, auf dem mich die Mehrheit der Menschen begleiten kann.


Aktuell sitzen in Deutschland knapp 60.000 Menschen wegen aller möglichen Delikte in Haft.
Wie sollte der Entscheidungsprozess laufen, um mehr Gerechtigkeit walten zu lassen und dem
Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit nachzukommen?

Viele Bagatell – und Betäubungsmitteldelikte sollten entkriminalisiert werden. Nur etwa jeweils 7 % der derzeitigen Inhaftierten sind wegen Tötungs- oder Sexualdelikten in Haft. Darauf und auf gravierendere Körper- oder Eigentums-/Vermögensverletzungen sollten wir unsere Strafen beschränken. Alle anderen Regelüberschreitungen sollten zivilrechtlich oder als Ordnungswidrigkeit behandelt werden.

Ein Thema, das immer wieder zu der Forderung nach härteren Strafen und Gesetzesänderungen führt, sind die furchtbaren, unerträglichen Fälle von Kindesmissbrauch, oft an den eigenen Kindern. Ermittler sprechen inzwischen von einem „Geflecht“, die Täter kommen aus der Mitte der Gesellschaft und scheinen nicht mal mehr zu versuchen, über das Darknet ihre Verbrechen an Kindern zu verstecken. Unerträglich ist hier auch die Erkenntnis von Ärzten, dass über die Hälfte der Täter in ihrer eigenen Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt hat. Welchen Weg schlagen Sie vor?

Manche Fälle, über die medial berichtet wird, sind auch für mich kaum zu ertragen. Ich denke, da geht es mir wie vielen anderen. Da sind sicher auch Täter dabei, denen aus meiner Sicht lebenslang die Freiheit entzogen werden müsste. Das sollte aber in einem menschenwürdigen Kontext, und nicht in einem kleinen Haftraum stattfinden. Niemand hat etwas davon, wenn wir Menschen roh und unmenschlich behandeln, oder gar foltern und hinrichten, wie es z.B. in den USA der Fall ist. Für diese wenigen Schwerstkriminellen würde ich eine dorfartige Unterbringung in Einrichtungen vorschlagen, die gegen Entweichungen gesichert sind.

Vor allem aber dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, durch eine Bestrafung oder den Freiheitsentzug der Täter sei die Gefahr gebannt und das Problem gelöst. Viel wichtiger ist es, sich verstärkt um die Opfer zu kümmern, auch, damit diese nicht irgendwann selbst zu Tätern werden, und darüber hinaus der Frage nachzugehen: Wie können Menschen so herzlos und gestört werden, dass sie ihre eigenen Kinder missbrauchen?


Das Prinzip Verantwortung, das Sie einfordern, rückt die Opfer und Schadenswiedergutmachung an ihnen, soweit das überhaupt möglich ist, in den Mittelpunkt. Welche Möglichkeiten sehen Sie, die wir bisher völlig vernachlässigt haben?

Man sollte die Mitwirkungsrechte von Opfern auch hinsichtlich der Bestrafung der Täter ausbauen. Die Gerichte sollten künftig nur noch festlegen, welche Straftaten begangen wurden, und wie groß das verübte Unrecht ist. Daran orientiert würde sich ein großer Rahmen möglicher Rechtsfolgen ergeben, den nicht mehr das Gericht, sondern ein Gremium ausfüllen sollte, in dem neben Fachleuten verschiedenster Disziplinen (Sozialpädagogen, Psychologen usw.) und Angehörigen der Öffentlichkeit auch die Opfer vertreten sind. Dieses Gremium erarbeitet dann gemeinsam u.a., wie dem Opfer geholfen und der Schaden möglichst wiedergutgemacht werden kann. Manchen Opfern ist eine materielle Wiedergutmachung wichtig, andere wünschen sich gemeinnützige Leistungen des Täters. Manche wollen den Täter nie wiedersehen, andere streben mit ihm einen kommunikativen Prozess unter Begleitung eines staatlichen Mediators an. Unser derzeitiges Strafsystem wird den individuellen und differenzierten Bedürfnissen der Geschädigten von Straftaten kaum gerecht.


Eigentlich müssten ja dann im Gerichtssaal die Weichen schon anders gestellt werden. Wie reagieren Richter und Staatsanwälte auf ihre Vorstöße? Welchen Spielraum hätten sie im jetzigen Rahmen der Gesetzgebung?

Richter und Staatsanwälte haben derzeit wenig Spielraum, um auf die konkret betroffenen Opfer und Täter einzugehen. Sie wenden das Gesetz an, das in allen Fragen nur begrenzte Entscheidungsspielräume eröffnet, und oft zu Lösungen führt, die den Einzelfällen nicht gerecht werden können. Im Gerichtssaal mag die Gleichung noch aufgehen: Begangene Straftaten + Schwere der Schuld = Länge der Freiheitsstrafe. Das Leben geht aber außerhalb des Gerichtssaals weiter. Für Opfer, Täter und Allgemeinheit.

Künftig sollte daher der Spielraum von Staatsanwälten und Richtern darauf beschränkt werden, Straftaten aufzuklären und gerichtlich festzustellen, wie hoch das begangene Unrecht ist. Dann sollte das o.g. Gremium in Aktion treten. Manche Staatsanwälte und Richter werden das begrüßen, andere sich in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschnitten sehen. Letztlich müssen jedoch alle einsehen, dass sich Probleme und Konflikte nicht von oben herab und rein nach juristischen Regeln lösen lassen.


Letztendlich geht es auch um Präventionsmaßnahmen, die schon im Kindesalter beginnen müssten. Eine Binsenweisheit, die aber eigentlich auch die Justizpolitik herausfordert oder?

Ja, Prävention vor Strafe ist eine Binsenweisheit, die aber noch stärker in die Tat umgesetzt werden muss. Gerade die Justizpolitik muss viel mehr in andere Politikbereiche (Familien-, Bildungs-, Sozialpolitik) hineinwirken. Straftaten dürfen nicht nur als ein individuelles Fehlverhalten, sondern immer auch als Ausdruck eines sozialen Problems betrachtet werden. Wenn man sich etwa die derzeit knapp 60.000 Inhaftierten ansieht, wird man zahllose Parallelen in den Biografien und Lebensumständen der Straffälligen feststellen. Daraus Rückschlüsse zu ziehen, wäre um ein Vielfaches fruchtbarer, als mit kernigen Worten harte Strafen zu fordern.

Besonders deutlich wird dies bei den Ersatzfreiheitsstrafen. Etwa 75% aller Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen (das sind pro Jahr etwa 50.000 Menschen), weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten, sind arbeitslos. Etwa 25 % sind sogar ohne festen Wohnsitz, 11 % haben bereits mindestens einen Suizidversuch hinter sich, gut Dreiviertel sind suchtkrank. Wenn solche Menschen z.B. öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ohne das Beförderungsentgelt zu entrichten („Schwarzfahren“), dann ist dies in der Regel nicht Ausdruck ihrer kriminellen Energie, sondern ihrer sozialen Not. Dort, und nicht bei ihrer Bestrafung, die in vielen Fällen alles nur noch schlimmer macht, müsste daher eine sinnvolle Justizpolitik ansetzen.

Herr Dr. Galli, wir danken Ihnen.

Vita: Dr. Thomas Galli

Thomas Galli studierte Rechtswissenschaften, Kriminologie und Psychologie. Ab 2001 war er im Strafvollzug tätig, 2013 wurde er Leiter der JVA Zeithain, 2015 zeitweise zusätzlich Leiter der JVA Torgau. Daneben publizierte er über Fragen der Kriminologie und des Strafvollzugs. Galli war Mitglied des Kriminalpräventiven Rats der Stadt Dresden sowie Vertreter Sachsens bei der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter. Seit Oktober 2016 ist er als Rechtsanwalt in einer Sozietät in Augsburg tätig. Er veröffentlichte mehrere Sachbücher zum Thema Gefängnis; im Mai 2020 erschien »Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen« in der Edition Körber.

Mail: aW5mb0BnYWxsaS1yaWVkbC5kZQ==@invalid
Website: www.galli-riedl.de

Ernst Barlach Aus dem Kommissionsbericht der Übersichtigen, 1907. Feder über Kohle auf Zeichenpapier, 45 x 57,5 cm. Ernst Barlach Haus Hamburg, Foto: Andreas Weiss

Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Herr Dr. Thomas Galli beantwortete diese schriftlich am 14. September 2020.

Dr. Thomas Galli im Interview

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