"Empfänger unbekannt"

„Ich weiß, da hat mir nicht mein Freund geschrieben“

Mitglieder von Convivio mundi e. V.
lasen am 16. November 2013 in Hannover im Freizeitheim Lister Turm

Empfänger unbekannt“
von
Katherine Kressmann Taylor.

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Es beginnt harmlos. Zwei Freunde und Geschäftspartner schreiben einander Briefe. Max, ein in San Francisco lebender Jude, kümmert sich vor Ort um die gemeinsame Kunstgalerie. Martin ist 1932 aus den USA zurückgekehrt nach Deutschland und arbeitet dort für die Deutsch-Völkische Bank- und Handelsgesellschaft. Zunächst werden freundschaftliche Briefe ausgetauscht, aber Martin lässt sich von der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland mitreißen und kündigt dem ehemaligen Freund bald die Freundschaft auf: „Es ist mir unmöglich, weiterhin einen Schriftwechsel mit einem Juden zu unterhalten, zumal ich ein öffentliches Amt übernommen habe.“ Max ist zunächst fassungslos. Er kann nicht glauben, dass das sein Freund ist, der ihm so etwas schreibt. Er vermutet Vorsichtsmaßnahmen hinter dessen Formulierungen und bittet ihn um ein geheimes Zeichen. Die Antwort ist eindeutig: „Nein“.

Für Max ist das noch kein Grund, den Freund endgültig aufzugeben, er hakt nach. Aber die Antworten bleiben ernüchternd: „Dich habe ich immer als einen Freund geschätzt, aber Du wirst auch wissen, daß ich aus ehrlichem Herzen spreche, wenn ich sage, daß ich Dich nicht wegen Deiner Rasse geliebt habe, sondern trotzdem“, schreibt Martin zunächst noch unsicher.
Schließlich wirft er Max vor: „Du wirst vor allem Jude sein und Dein eigenes Volk bejammern. Das verstehe ich. Das liegt nun einmal in der semitischen Natur. Ihr klagt, aber ihr seid niemals tapfer genug, um euch zu wehren. Daher die Pogrome.“

Schließlich erfährt man, dass Martin Max’ Schwester, die von Amerika nach Deutschland gereist ist und dort, von SA-Männern verfolgt, bei ihm Zuflucht gesucht hat, keinen Schutz geboten, sondern sie grausam der SA überlassen hat. Auch hier greift er zu erbärmlichen Ausreden, mit denen er sich selbst zum Opfer zu stilisieren versucht. Ungerührt teilt er Max den Tod seiner Schwester mit. Was Kressman Taylor hier herausstellt, ist die Erbärmlichkeit der nationalsozialistischen Argumentation, die sie in Kontrast setzt mit der gewaltlosen Art und Weise, mit der Max sich schließlich gegen den Verräter zur Wehr setzt. „Unser geliebter Martin“, schreibt er ihm, kurz nachdem er vom Tod seiner Schwester erfahren hat, „vergiß Omas Geburtstag nicht. Am 8. wird sie 64. Amerikanische Spender werden für Deinen Bund ‚Junger Deutscher Maler’ 1.000 Pinsel zur Verfügung stellen. Mandelberg hat sich entschlossen, den Bund zu unterstützen […].“ Er lässt eine Reihe von Mitteilungen dieser Art folgen. Die vermeintlichen Kontakte zu einer jüdischen Familie in Amerika verfehlen ihren Zweck nicht. „Empfänger unbekannt“, lautet der Vermerk auf Max’ letztem Brief vom 3. März 1934 an Martin, den er mit den Worten beschließt: „Der Gott Mosis sei zu Deiner rechten Hand. Eisenstein“.

Der Briefwechsel ist fingiert - er erschien erstmals 1938 in der September/Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Story - zeigt aber sehr deutlich typische nationalsozialistische Argumentationsmuster und eine bemerkenswerte Art und Weise des verbalen, gewaltfreien Widerstands.
„Ich bin froh“, sagte Renate Müller De Paoli nach der packenden Lesung, „dass diese Lektüre heute an Schulen gelesen wird.“


Geschrieben von Janina Schmiedel
Dienstag, 19. November 2013


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