Gegen das Vergessen

Interview mit Luigi Toscano, Fotograf und Filmemacher

Es sind die Augen – Augen, die das Gegenüber suchen und „gefangen nehmen“. Es sind Augen und Gesichter von Menschen jeglicher Herkunft und Nationalität, die trotz Verfolgung und Inhaftierung die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus überlebten.

Der Fotograf und Filmemacher Luigi Toscano hat über 200 Zeitzeugen in Deutschland, den USA, Israel, Russland und der Ukraine aufgesucht und porträtiert. Frontal vor schwarzem Hintergrund zeigt er die Gesichter. Er versteckt sie nicht in Museen und Ausstellungsräumen, sondern geht mit großformatigen Foto-Installationen in den öffentlichen Raum – wie in Berlin oder New York – und versucht, auf Plätzen und Straßen allen Menschen die Begegnung mit den Opfern des Holocaust und den Zugang zu ihrer Geschichte zu ermöglichen.

Renate Müller De Paoli sprach mit ihm, kurz bevor er nach Washington D.C. flog, um dort eine weitere Installation vorzubereiten.

Buchcover: Gegen das Vergessen

Gegen das Vergessen (© Verlag Edition Panorama Mannheim)

Herr Toscano, Sie haben inzwischen über 200 Überlebende des Holocaust fotografiert. Was war für Sie der Auslöser für Ihr Projekt „Gegen das Vergessen“? Wie ist die Idee entstanden?

Die Idee ist nicht auf einmal entstanden. Es hat sich entwickelt u. a. aus dem ähnlichen Projekt „Heimat Asyl“, das ich schon vorher gemacht habe. Noch vor der großen Flüchtlingskrise habe ich Asylbewerber aus Mannheim porträtiert und diese dann großformatig in den öffentlichen Raum gebracht. Dabei habe ich für mich erkannt, dass diese Art der Installation, bzw. Ausstellung, auf diese Weise sich im öffentlichen Raum zu präsentieren, ein Versuch war. Diese Arbeit hat bei mir etwas ausgelöst. Es war eine Portion mehr an kreativer Entfaltung möglich.
Und da habe ich für mich beschlossen, das Thema Holocaust anzupacken und Überlebende auf der ganzen Welt aufzusuchen und zu porträtieren. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich allerdings auch als Jugendlicher, mit 18 Jahren, hatte ich mich selbständig auf den Weg nach Auschwitz gemacht. Diese Begegnung hat mich sehr berührt und auch geprägt. Deshalb habe ich für mich beschlossen, diese Form der Erinnerungskultur bzw. diese Auseinandersetzung auf den Weg zu bringen.


Wie haben Sie das Projekt umgesetzt? Wie haben Sie die Überlebenden gefunden?

Zuerst einmal habe ich versucht, verschiedene Institutionen anzuschreiben und anzurufen. Aber ich muss zugeben, am Anfang hatte ich es ziemlich schwer und die Tür war zu für mich. Erst später hatte ich die Gelegenheit, in der KZ Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen fünf ehemalige Zwangsarbeiter zu porträtieren. Mit diesen ersten Fotografien konnte ich mein visuelles Konzept ausbauen. Damit habe ich mich nochmals an die Institutionen gewandt und die Tür hat sich dann geöffnet. Im Laufe des Projekts war es dann so, dass ich dem Projekt hinterherlaufen musste. Sie müssen sich vorstellen, es hat sich herum gesprochen, so dass mich tatsächlich aus der ganzen Welt die Menschen angerufen haben.

Fotos und Copyright: Luigi Toscano

Warschau / Polen 1930

1944 beim Warschauer Aufstand festgenommen / Im KZ Dachau zur Zwangsarbeit selektiert
Ab September 1944 in Mannheim Sandhofen, einem Außenkommando des KZ Natzweiler-Struthof, das bei der Firma Daimler-Benz Zwangsarbeit leistete

Während der Weihnachtstage 1944 in das KZ Buchenwald überführt / Im Januar 1945 in die Adlerwerke in Frankfurt am Main
Mitte März 1945 zurück nach Buchenwald / Danach KZ Flossenbürg und wieder Dachau / 25. April Befreiung

Überlebte 3 Todesmärsche

Gegen das Vergessen, Mannheim 16. 09. 2014

Kiew / Ukraine
Geburtsdaten unbekannt

KZ Auschwitz-Birkenau
Die Eltern wurden direkt nach der Ankunft in Auschwitz ermordet.

Versuchskind von Dr. Mengele


Gegen das Vergessen
Kiew 23. 02. 2015

Düsseldorf / Deutschland 1925

Nach der Kristallnacht mit der Mutter nach Straßburg geflüchtet
Weiter über Frankreich in die Schweiz


Der Vater wurde von der Wehrmacht erschossen.


Gegen das Vergessen
Haifa 04. 02. 2015

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Sind Sie sofort auf Zustimmung gestoßen, oder ist Ihnen auch Misstrauen, Ablehnung oder sogar Wut und Hass angesichts des erlittenen Leids entgegengebracht worden?

Alle, die ich angefragt habe, haben sich von mir porträtieren lassen. Die Begegnungen waren sehr unterschiedlich. Natürlich wurde mir am Anfang auch eine ganze Portion Misstrauen entgegen gebracht – man kannte sich ja nicht. Aber ich konnte das lösen, indem ich immer wieder meine Vision erklärt habe. Der menschliche Aspekt hat oft die größere Rolle gespielt. Ich konnte im Gespräch den Menschen kennenlernen und erst viel später wurde das Foto gemacht. Hass oder Ähnliches habe ich nicht entgegen gebracht bekommen. Es gab hin und wieder aufregende Situationen, auch bedingt durch das Trauma, mit dem die Menschen leben. Aber alles war sehr wohlwollend. Mit Sicherheit kann ich sagen, dass alle die Menschen, denen ich auf der Welt begegnet bin, mir sehr positiv gegenüber standen, und mir einfach vertrauten.


Im September 2016 sind Ihre Portraits erstmals in der Ukraine unter der Schirmherrschaft des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier im Rahmen eines Staatsaktes zum Gedenken an die Massaker von Babyn Jar im Jahr 1941 gezeigt worden. Welche Resonanz haben Sie seitdem erfahren?

Zum einen war es für mich eine besondere Ehre, den Staatsakt in der Ukraine mit gestalten zu dürfen. Zum anderen muss man sagen, dass die Aufmerksamkeit insgesamt sehr groß war, das hat mich schon bewegt. Ich konnte Überlebende aus Babyn Jar porträtieren, die auch dort zu Gast waren. Diese Möglichkeit und die Zeremonie waren persönlich sehr bewegend für mich. Die Resonanz war sehr positiv. Ich bekam zwar auch doofe e-mails, das war nicht so schön. Aber insgesamt war die Rückmeldung sehr positiv, auch des Außenministers. Das zeigte mir, dass es der richtige Weg ist.

Luigi Toscano

Luigi Toscano (© Toscano)

Herr Toscano, Sie selbst sind im Leben schon durch viele Tiefen gegangen. Ihr Vater kam in den 1970er Jahren aus einem kleinen Dorf in Sizilien nach Deutschland. Wie haben Sie als Kind dieses Ankommen im „Gastarbeiterland Deutschland“ erlebt? Wie war das für Ihre Familie, ihre Geschwister?

Meine Entwicklung war aufgrund meiner Familienherkunft ganz klassisch. Mein Vater ist als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Meine Familie hat sich nicht besonders um mich gekümmert. Ich hatte es nicht ganz einfach. Meine Kindheit habe ich auf der Straße verbracht und hatte viel Berührung mit Gewalt und ähnlichem. Das Ankommen in Deutschland war dadurch geprägt, dass mein Vater nie angekommen ist. Bis zuletzt konnte er kein Deutsch sprechen. Ich muss sagen, die Angebote waren auch nicht da. Wohin hätte sich mein Vater wenden können? Er war selbst überfordert mit der Situation. Außer dem unmittelbaren Umfeld der Arbeit und seines eigenen Mikrokosmos gab es nichts. Seine Situation beschreibe ich als Haltestelle. Im nach hinein betrachtet hat mir das sehr leid getan. Ich kann die unsägliche Diskussion über Integration nicht hören, weil ich rückblickend nicht erkennen kann, wo die Angebote waren, an die er sich hätte wenden können. Heute ändert sich das ein wenig, auch gibt es im Zeitalter der Digitalisierung andere Möglichkeiten. Ich habe den Eindruck, es müsste mehr qualitativ gute Angebote geben. Noch sehe ich das nicht in Deutschland. Ich für mich konnte meinen Weg gehen. Aber ein wirkliches Ankommen hat nie stattgefunden.

Sie haben eine Drogentherapie und -entzug mit Erfolg durchgestanden? Was oder wer hat Ihnen dabei geholfen? Welchen Rat geben Sie Betroffenen?

Ich weiß nicht so genau, was ich unter Erfolg verstehe. Ja, ich bin clean. Ich habe eine Therapie gemacht, die wichtig für mich war. Ich mache noch heute Dinge, die mir einfach gut tun, um keine Drogen mehr zu nehmen. Ich sage einfach nur kurz: Die Grundlage für diese Frage ist ein gesundes Selbstbewusstsein. Hätte ich zu dem Zeitpunkt ein Selbstbewusstsein auf dem Level gehabt wie heute, hätte ich vielleicht auf Drogen verzichten können. Die Drogentherapie hat natürlich dazu beigetragen, dass ich heute clean bin. Ich hatte auch eine sehr gute Therapeutin, die es sehr ernst mit mir gemeint hat. Den Rat, den ich geben kann, ist: Im Vordergrund steht die Entscheidung, aufhören zu wollen. Das kann keiner übernehmen. Das muss man selber entscheiden. Auf dieser Grundlage kann man aufbauen. Wenn man sich dann Hilfe sucht und auch weiß, dass man Hilfe braucht, dann kann das zumindest ein Anfang sein, der sich positiv entwickeln kann.

“Installation Schlossstraße, Berlin”

(Fotos: Frank Hahn)

Wie haben Sie letztendlich den Weg zur Fotografie gefunden?

Bei mir hat es wie ein Zufall begonnen. Ich habe vor 15-16 Jahren eine Kamera im Schaufenster gesehen, die auch noch ein Sonderangebot war. Ich habe mir eingebildet, ich könne sofort damit fotografieren. Das hat an meinem Ego gekratzt und ich beschloss, einen ganz normalen Volkshochschulkurs zu besuchen. In diesem Kurs wurden mir die Grundlagen der Fotografie beigebracht, auf denen ich dann später mehr oder weniger autodidaktisch aufgebaut habe. Später kam auch das Filmemachen hinzu, das ich mir auch weitgehend selbst beigebracht habe. Ich hätte nicht gedacht, dass sich das so entwickelt, aber es ist so gekommen, wie es gekommen ist und ich bin zufrieden damit.


Ihre Bilder bewegen und berühren. Sie öffnen Herzen und fordern heraus, nicht mehr wegzuschauen und Leid zu verdrängen. Haben Sie aufgrund Ihrer persönlichen Lebenserfahrung besondere Vorschläge zum Thema „Integration“?

Natürlich ist es die Intention der Bilder bzw. des aktuellen Projektes, dass ich – wie Sie es auch beschreiben – mit den Bildern bewegen, dass ich Botschaften hinterlassen kann. Vielleicht habe ich damit auch die Möglichkeit, Erinnerungskultur auf eine andere Ebene zu stellen. Sicherlich werde ich dadurch nicht die Welt verändern oder groß zur politischen Lage in Deutschland beitragen können. Aber ich kann Impulse setzen und ich glaube, mit diesen Impulsen kann ich provozieren, ärgern, anregen. Ich glaube, wir müssen dranbleiben.
Und das zählt auch für die Integration. Man darf nicht erwarten, dass Integration von heute auf morgen passiert. Die Angebote müssen qualitativ gut sein, das hatte ich bereits betont. Ein Schlüssel ist natürlich die Sprache und sicherlich – damit zusammenhängend – die Bildung. Das sind die beiden Grundlagen, die man braucht. Vielleicht sollte man die Angebote überdenken. Eines der Angebote könnte sein, mehr Räume für Begegnung zu schaffen. In der Begegnung werden am besten Vorurteile und Ängste abgebaut. Auch in der Schule kann man mehr zusammenfügen und zusammenführen. Mit einer guten Portion Geduld und einem lang angelegten Plan kann man dazu beitragen, dass ein Mensch für sich die Chance sieht, sich zu integrieren. Natürlich gibt es Menschen, die sich aufgrund ihrer Lebensumstände weigern, aber auch in einem solchen Fall sollte man nicht aufhören, Angebote zu machen. Manchmal reicht es auch nicht aus, zu schubsen, manchmal kann es auch gut sein, mehr in die Pflicht zu nehmen. Einfach nicht locker lassen! Das wird sich zu einem späteren Zeitpunkt auszahlen.



Herr Toscano wir danken Ihnen.

Vita: Luigi Toscano

Luigi Toscano ist ein italienisch-deutscher Fotograf und Filmemacher.

Er wurde 1972 als Sohn italienischer Gastarbeiter geboren. Nach Tätigkeiten als Dachdecker, Türsteher und Fensterputzer schlug er eine künstlerische Laufbahn ein. Die technischen und handwerklichen Fertigkeiten eines Fotografen brachte er sich selbst bei. In seinen frühen Arbeiten konzentrierte er sich überwiegend auf die Betrachtung und Darstellung unbewegter Szenen und Objekte. Mittlerweile wird der Mensch zum Mittelpunkt seiner Bilder. Seit 2006 ist Luigi Toscano auch als Filmemacher tätig. Wie bei der Fotografie erarbeitete er sich die Technik in Eigenregie. Mit seiner Firma Luigi Toscano Production stellt er Dienstleistungen im Bereich Film, Video und Fotografie zur Verfügung.

Ausstellungen seiner Arbeiten fanden in Mannheim, Hannover, Düsseldorf, Berlin, Esslingen, Heidelberg, Stuttgart, Kiew und Dnipro statt.

Luigi Toscano GEGEN DAS VERGESSEN, 192 Seiten mit über 125 Fotografien in Farbe, Verlag Edition Panorama, Mannheim

Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Montag, 5. März 2018

Gegen das Vergessen

Interview mit Luigi Toscano, Fotograf und Filmemacher


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