Humanitäre Korridore und Schulen des Friedens

Der Beginn einer „Reise der Hoffnung"!?
Dr. Cesare Zucconi, Generalsekretär der Gemeinschaft Sant'Egidio, im Interview

„Wir von Sant'Egidio haben uns gefragt, was man tun kann, um Leben zu retten und neue, legale und sichere Zugangswege zu schaffen. Wir wollten nicht ohnmächtig zusehen!“, sagt Dr. Cesare Zucconi, seit 2008 Generalsekretär der Gemeinschaft Sant’Egidio, und erläutert im Interview mit Convivio mundi das Konzept der „humanitären Korridore“ und „Schulen des Friedens“ in Flüchtlingslagern. Wohlwissend, „dass die Migrationsfrage ein entscheidender Faktor für die Gegenwart und Zukunft Europas und unserer Gesellschaften ist. Einem so komplexen Phänomen kann man nicht mit Mauern begegnen, man darf auch nicht so tun, als würde man es nicht sehen. Die Migration ist ein strukturelles Merkmal unserer globalen Welt und nicht nur die Folge einer Notlage.“


Dr. Cesare Zucconi

Herr Zucconi, Hunger, Krieg, Verfolgung und Vertreibung – manches auch ein Erbe menschenunwürdiger und –verachtender Kolonialpolitik – zwingen immer mehr Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Nach UN-Angaben sind inzwischen weltweit über 80 Mio. Menschen auf der Flucht, also de facto jeder Hunderste. Die Bilder der Fluchtwege und aus den Flüchtlingslagern lassen nur annähernd erahnen, welches Leid die Einzelnen zu ertragen haben. Die Gemeinschaft Sant’Egidio fordert seit einiger Zeit den „Aufbau von humanitären Korridoren“. Könnten Sie das näher erläutern, wie ist das zu verstehen?

Die „humanitären Korridore" sind nach den tragischen Todesfällen auf dem Meer und insbesondere nach dem schlimmen Schiffsunglück vom 3. Oktober 2013 entstanden, bei dem fast 400 Flüchtlinge und darunter viele Frauen und Kinder vor der italienischen Insel Lampedusa ums Leben kamen. Bei der Gedenkfeier für die Opfer gab es einen verzweifelten Mann aus Eritrea, der seit Jahren in Deutschland lebte, und ein erfolgreicher und perfekt integrierter Unternehmer war. Er hatte alles versucht, um seinem Bruder eine legale Einreise nach Deutschland zu ermöglichen und ihm auch sofort einen Arbeitsplatz in seiner Firma zu verschaffen, aber es war ihm nicht gelungen. So versuchte sein Bruder, eine „Reise der Hoffnung“ zu unternehmen, schiffte sich ein und kam wenige Kilometer vor der italienischen Küste ums Leben.
Heute ist das Mittelmeer zum Friedhof für Zehntausende von Frauen, Männern und Kindern geworden, die nicht nach Europa gelangen konnten, weil legale Zugangswege praktisch verschlossen sind. Dabei hätten sie Anspruch auf internationalen Schutz, weil sie verfolgt werden oder vor Kriegen und Gewalt fliehen. Wir von Sant'Egidio haben uns gefragt, was man tun kann, um Leben zu retten und neue, legale und sichere Zugangswege zu schaffen. Wir wollten dieses Massaker nicht ohnmächtig mit ansehen. Deshalb haben wir uns eingehend mit den europäischen Rechtsvorschriften befasst und in Artikel 25 des so genannten EU-Visakodex eine Lösung gefunden. Hier ist vorgesehen, dass jeder einzelne Staat der Europäischen Union humanitäre Visa mit begrenzter räumlicher Gültigkeit ausstellen kann. Gemeinsam mit den evangelischen Kirchen Italiens nahmen wir Verhandlungen mit der italienischen Regierung auf, die nach einem Jahr am 15. Dezember 2015 zur Einrichtung des ersten humanitären Korridors vom Libanon nach Italien führten. Wir hatten 1.000 humanitäre Visa für gefährdete Menschen im Libanon zur Verfügung, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Sant'Egidio und die evangelischen Kirchen kümmern sich um die Kontakte und Begleitung der Flüchtlinge von ihrer ersten Begegnung im Libanon bis zu ihrer vollständigen Integration in die italienische Gesellschaft. Dies bedeutet, dass besonders vulnerable Personen anhand der mit den Behörden vereinbarten Kriterien ermittelt werden, um dann ihre Reise nach Italien zu organisieren und zu begleiten, damit sie aufgenommen werden und für ihre vollständige Integration in die Gesellschaft gesorgt werden kann. Der größte Teil der Kosten wird also von den Trägerorganisationen übernommen, was für den Staat eine erhebliche Einsparung von Mitteln bedeutet. Die Regierung, insbesondere das Innen- und das Außenministerium, sind für die Überprüfung der Identität der ausgewählten Personen zuständig, um die Sicherheit des Gastlandes zu gewährleisten und über die italienische Botschaft in Beirut humanitäre Visa auszustellen. Der Erfolg dieses bewährten Modells liegt in der Synergie zwischen den Institutionen und der Zivilgesellschaft, die eine legale und sichere Einreise, die Erlangung des Flüchtlingsstatus in kurzer Zeit und eine gute Integration ermöglicht. Tausende von Einzelpersonen sowie Vereine, Kirchengemeinden und religiöse Gemeinschaften engagieren sich für die Aufnahme der Flüchtlinge, die von Sant'Egidio und den evangelischen Kirchen koordiniert wird. Sie nehmen die Flüchtlinge kostenlos auf und kümmern sich um die schulische Integration der Kinder, die Integration der Erwachsenen in den Arbeitsmarkt, das Erlernen der Sprache, die medizinische Versorgung der Bedürftigen und alles weitere, was für eine erfolgreiche Integration notwendig ist. Viele Italiener haben großzügig ihre Hilfe zur Verfügung gestellt. Es gibt eine große Bereitschaft in der Bevölkerung, die von den Regierungen oft nicht gesehen wird. In den letzten fünf Jahren wurden die „humanitären Korridore" zu einem nachahmenswerten Modell: Wir haben das dritte Protokoll für Flüchtlinge aus dem Libanon unterzeichnet, in dessen Rahmen über dreitausend humanitäre Visa ausgestellt wurden. In Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche Italiens wurde ein weiterer „humanitärer Korridor" aus Äthiopien für zweitausend Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, dem Südsudan und Jemen eingerichtet. Für Frankreich, Belgien, San Marino und Andorra wurden ebenfalls „humanitäre Korridore" eingerichtet; mit weiteren europäischen Ländern laufen Verhandlungen. Gemeinsam mit der italienischen Regierung organisieren wir die Evakuierung von besonders gefährdeten Menschen aus den schrecklichen libyschen Lagern. In diesem Sommer, während der akuten Phase der Evakuierung aus Afghanistan, haben wir mit der italienischen Regierung zusammengearbeitet, um einige der am meisten gefährdeten Menschen durch die Luftbrücke zu retten und sie anschließend in Italien aufzunehmen. In naher Zukunft werden wir dank eines mit der italienischen Regierung unterzeichneten Protokolls humanitäre Korridore von Pakistan und dem Iran aus für besonders gefährdete Afghanen einrichten. Nach der Reise von Papst Franziskus auf die griechische Insel Lesbos im Jahr 2016 haben wir einen Kanal für einige besonders vulnerable Personen, darunter mehrere unbegleitete Minderjährige eingerichtet, um sie nach Italien zu bringen und für ihre Integration zu sorgen.


Welche Erleichterung würde dieses Konzept für die Flüchtlinge z.B. auf Lesbos oder in Ceuta bringen? Wie in allen Flüchtlingslagern, Sie erinnerten an die „schrecklichen libyschen Lager“, ist die Lage dort dramatisch und hoch explosiv.

Am tragischsten scheint mir die Perspektivlosigkeit zu sein. Ich erinnere mich an eine afghanische Frau im Lager Moria auf Lesbos, die mir sagte: „Ich habe eine schrecklich lange Reise hinter mir, um hierher zu kommen, und ich habe die Hoffnung nie aufgegeben. Aber hier auf Lesbos habe ich die Hoffnung verloren. Ich befinde mich seit Jahren in diesem Lager und habe keine wirkliche Aussicht, hier herauszukommen. Meine Kinder gehen nicht zur Schule. Alles ist schwierig: der Zugang zu Wasser, zu medizinischer Versorgung, zu Lebensmitteln, zu sanitären Einrichtungen. Es gibt so viele Unsicherheiten, so viele Gefahren, vor allem für Frauen. Es gibt keine Zukunft für mich. Ich kann nicht zurückgehen. Und ich kann auch nicht weiter reisen. Es ist wie ein Leben in der Schwebe, in der Vorhölle.“
All dies geschieht nicht außerhalb unserer Grenzen, sondern in Europa, Heimat des Rechts und der Freiheit. Doch die Menschenrechte sind längst keine universellen Rechte mehr, sondern Privilegien für einige wenige. Wir müssen diesen Menschen die Hoffnung und ihre Würde zurückgeben und ihnen Zugang zu ihren Rechten verschaffen. Sant'Egidio ist seit einiger Zeit in den Lagern auf Lesbos und in Athen anwesend, um mit Tausenden von Flüchtlingen Kontakt zu halten und nach Lösungen zu suchen. Insbesondere im Sommer verbringen Hunderte junger Erwachsener aus vielen Gemeinschaften von Sant'Egidio in Europa ihren Urlaub bei den Flüchtlingen in Griechenland und organisieren zahlreiche kostenlose Aktivitäten für die Kinder, darunter Schulunterricht, Italienisch- und Englischkurse für Erwachsene, Gesundheits- und Rechtsbeistand, Nahrungsmittelhilfe und vieles mehr. All dies trägt dazu bei, ihnen wieder Hoffnung zu schenken.



Um den „humanitären Korridoren“ die notwendige Dimension und Durchschlagskraft und somit Wirkung zu geben, müsste doch Europa eine entscheidende Schlüsselrolle spielen, stattdessen drohen in den 27 EU-Mitgliedsstaaten Abschottung, Uneinigkeit und nationalistische Tendenzen bestimmend zu werden. Wie kann diese Entwicklung überhaupt noch aufgebrochen werden? Was versucht, Sant’Egidio diesem Prozess entgegen zu setzen?

Man könnte lange über die Ohnmacht der Europäischen Kommission in Bezug auf das Flüchtlings- und Migrantendrama sprechen. Die harten Positionen der Visegrad-Länder und anderer Länder wie Österreich in der Migrationsfrage sind allgemein bekannt. Der neue Pakt zu Einwanderung und Asyl, den die Europäische Kommission 2020 auf den Weg bringen wollte, um eine gemeinsame Migrationspolitik der Mitgliedstaaten zu schaffen, ist enttäuschend und geht nicht auf die dringendsten und wichtigsten Fragen ein. Außerdem ist der Pakt selbst eingefroren und kommt nicht voran. In Europa beschränken wir uns oft auf Absichtserklärungen, die nicht eingehalten werden. Ich nenne nur das Beispiel der Umsiedlung von Flüchtlingen: Nur ein kleiner Teil der versprochenen Maßnahmen der Umsiedlung in andere Länder wurde umgesetzt. Es mangelt an Solidarität zwischen den europäischen Ländern, an jener Solidarität, die der europäischen Einigung zugrunde liegt und die glücklicherweise angesichts der durch die Pandemie ausgelösten Krise in der Next-Generation-EU zum Ausdruck kommt. Ich habe den Eindruck, dass sich Europa noch nicht bewusst geworden ist, dass die Migrationsfrage ein entscheidender Faktor für die Gegenwart und Zukunft Europas und unserer Gesellschaften ist. Einem so komplexen Phänomen kann man nicht mit Mauern begegnen, man darf auch nicht so tun, als würde man es nicht sehen. Die Migration ist ein strukturelles Merkmal unserer globalen Welt und nicht nur die Folge einer Notlage. Daher muss sie mit einer gemeinsamen, langfristigen Politik angegangen werden, die auf gesundem Menschenverstand und Solidarität beruht, ohne ideologische Abwege. Die „humanitären Korridore" sind ein praktikables Modell, das überall angewendet werden kann, das auf gesundem Menschenverstand beruht und Sicherheit und Solidarität miteinander verbindet. Ich bin überzeugt, dass wir die Einwanderung im Interesse aller steuern können und müssen. Die Steuerung der Einwanderung bedeutet nicht nur, den Zugang zu unseren Ländern zu regeln, sondern sich auch von Anfang an um die Integration derjenigen zu kümmern, die bei uns ankommen.
Wir haben Europa vier konkrete Vorschläge unterbreitet und setzen uns weiterhin für sie ein: Der erste ist die Ausweitung und Verallgemeinerung der Praxis der humanitären Korridore, die von den bei den Regierungen akkreditierten NGOs unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft bei der Aufnahme unterstützt werden, um Leben zu retten und gleichzeitig von der Reise auf Booten abzuraten und die Integration zu fördern; zweitens die Wiedereinführung von Privat Sponsorship (für namentlich benannte Begünstigte aus Krisengebieten), die neben akkreditierten NGOs auch Unternehmen, Familien europäischer Bürger oder langfristig aufenthaltsberechtigte Ausländer übernehmen könnten, sofern sie in der Lage sind, angemessene finanzielle Garantien zu bieten; drittens die dringende Wiederherstellung regulärer Einreisemöglichkeiten zur Förderung der Beschäftigung in strategischen Sektoren, die der Nachfrage des Marktes nach Fachkräften entsprechen, insbesondere in den Bereichen, in denen ein Mangel herrscht wie bei Pflegekräften, Landarbeitern, Beschäftigten in der Tourismusbranche und anderen. Und schließlich müssen wir Dublin weiterentwickeln, um die komplexe Dynamik der Sekundärbewegungen zu lösen.


Erfahren Sie Unterstützung von Regierungen und Institutionen für Ihre Vorschläge oder stoßen Sie mehr auf taube Ohren und Wegschauen?

Einige Länder haben sich angeschlossen, wie Frankreich und Belgien, mit denen wir ein zweites Protokoll abschließen werden. Dann gibt es kleine Länder wie Andorra, das ein Ad-hoc-Gesetz verabschiedet hat, um humanitäre Korridore zu ermöglichen, sowie San Marino und das Fürstentum Monaco, die uns unterstützen. Wir sind im Gespräch mit anderen Ländern. Es wäre sicherlich sehr wichtig, wenn wir eine europäische Initiative zu humanitären Korridoren erreichen könnten. Das ist aus den oben genannten Gründen nicht einfach. Es gibt diejenigen, die das Migrationsthema für Wahlkampfzwecke ausnutzen, und diejenigen, die es einfach aufschieben oder sich hinter anderen Vorwänden verstecken. Ich möchte nicht sagen, dass nichts getan wurde. Aber wir brauchen auf jeden Fall einen entscheidenden Tempowechsel und eine andere Politik, wenn wir das Problem wirklich angehen wollen. Sehen Sie sich die jüngste Tragödie in Afghanistan an. Es gibt Länder in Europa, die selbst während des Vormarschs der Taliban und des Abzugs der westlichen Truppen darauf drängten, die Afghanen zurückzuschicken. Als die Taliban Kabul einnahmen, war damit Schluss. Doch nach einer ersten Intervention zur Rettung einiger Tausend Afghanen gibt es keinen Ausweg mehr. Ich sehe hier keine großartigen Initiativen. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen schnell vergessen. Der nächste Notfall wird uns die Afghanen und die Tausenden von Menschen vergessen lassen, die auch deshalb in Gefahr sind, weil sie mit dem Westen kollaboriert haben.


Sant’Egidio versucht ja auch, wenn ich das richtig verstanden habe, besonders den Kindern durch Schulunterricht eine gewisse Form von „normalem Leben“ zu geben. Wie sind diese Schools of peace, Schulen des Friedens, organisiert?

Der Dienst an den Kindern war der erste Dienst der Gemeinschaft Sant’Egidio für die Ärmsten. Wir begannen 1968 mit der Organisation von Aktivitäten am Nachmittag in den Baracken am Stadtrand von Rom. Es waren Kinder von Italienern, die aus dem Süden kamen. Die Migranten von damals. Von Anfang an waren die Schulen des Friedens nicht nur ein Ort zum Lernen, sondern auch Schulen des Lebens und der Menschlichkeit, die sich von der Schule der Straße und der Gewalt unterscheiden, in denen sie lernen, friedlich mit anderen zusammenzuleben, die Anderen kennenzulernen, sich in die Gesellschaft einzugliedern, sich für die Stadt und die Welt zu öffnen und den Grundstein für ein besseres Leben als das ihrer Eltern zu legen. Es handelt sich um Werkstätten für ein friedliches Zusammenleben in den Gesellschaften der Zukunft. Heute gibt es Schulen des Friedens in siebzig Ländern auf vier Kontinenten, wo die Gemeinschaften von Sant'Egidio leben und arbeiten, und erreichen fast 100.000 Jungen und Mädchen. Die Schulen des Friedens werden ausschließlich von jungen Freiwilligen aus der Gemeinschaft geleitet. Anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Schulen des Friedens haben wir ein Buch veröffentlicht, das auch auf Deutsch erschienen ist: In der Schule des Friedens. Kinder erziehen in einer globalen Welt, Hrsg. A. Gulotta, Echter, Würzburg 2018. Ein wunderschönes Buch, in dem die Kinder, ihre Sorgen, ihr Leid und ihre Träume im Mittelpunkt stehen und auch das pädagogische Modell der Friedensschulen vorgestellt wird.


In welchen Flüchtlingslagern haben Sie Schulen des Friedens aufbauen können?

Ich möchte nur zwei kurze Beispiele nennen: unsere Arbeit in Norduganda, wo Hunderttausende von Südsudanesen auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg aufgenommen wurden. In einigen Lagern haben wir Schulen gebaut, die wir mit Hilfe von Lehrern betreiben, die ebenfalls Flüchtlinge sind. Flüchtlingskinder haben keinen Zugang zur Schule. Dies ist eine alarmierende Tatsache, die eine dramatische Zukunft vorbereitet. Was wird aus diesen Kindern ohne Schulbildung? Was werden sie machen? Wir müssen in die Bildung und in die Erziehung für das Zusammenleben investieren, unabhängig von ethnischen, religiösen, nationalen Zugehörigkeiten oder Stammesdenken. Ich möchte auch auf das Engagement für die Vertriebenen im Norden Mosambiks hinweisen. Mosambik ist ein Land, das Sant'Egidio sehr am Herzen liegt, weil die Gemeinschaft 1992 in Rom nach langen Verhandlungen einen Frieden ausgehandelt hat, der einen 16-jährigen Bürgerkrieg mit über einer Million Toten beendete. Heute ereignet sich im Norden Mosambiks eine neue Tragödie. Wir haben gesehen, wie der Frieden in Mosambik zerstört wird: hartnäckiger Geiz, Korruption und die Wut der Armen. Heute herrscht im Norden ein islamistischer Guerillakrieg, der 820.000 Menschen (die Hälfte davon Kinder) vertrieben hat, die in den Städten und auf dem Lande oft ohne eine Unterkunft verstreut leben. Unsere Gemeinschaften in Mosambik haben sich sofort eingesetzt, um den Flüchtlingen mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Zelten usw. zu helfen, aber auch durch die sofortige Organisation von Schulen des Friedens für die Kinder. Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, zu beschreiben, wie sehr dies den Kindern eine Normalität und Ruhe vermittelt, während sie durch Gewalt traumatisiert sind, und das gilt auch für die Eltern selbst.

Ich vermute, die Gemeinschaft Sant’Egidio hat bewusst dieses Projekt „schools for peace“ genannt, denn letztlich gilt es ja eine mittel- und langfristige Lösung für die sich ausbreitenden Kriegsgebiete und Stellvertreterkriege wie Syrien, Libyen, Afghanistan oder Mali, um nur einige zu nennen, zu finden. Versucht Sant’Egidio auch auf dieser Ebene einzugreifen?

Das ist sehr wichtig: Wir müssen in künftige Generationen investieren, indem wir sie zu Frieden und Koexistenz erziehen. Ich nenne das Beispiel unserer Gemeinschaften in Mittelamerika, wo die Schulen des Friedens ein Schutz gegen die Kultur der Gewalt und Unterdrückung darstellen, in der so viele Kinder und Jugendliche aufwachsen, die sich den Maras anschließen. Das sind äußerst gewalttätige Jugendbanden. Ich denke an William Quijano, ein Jugendlicher unserer Gemeinschaften in San Salvador, der im Alter von 21 Jahren von den Maras getötet wurde. Er stammte aus den Vierteln, die von den Maras heimgesucht werden. In der Schule des Friedens hat er viele Kinder vor dem Zugriff der kriminellen Banden bewahrt. Dafür haben sie ihn getötet. Sein schrecklicher Tod zeigt, wie solche gewalttätigen Menschen diejenigen fürchten, die Kinder zu Frieden und Koexistenz erziehen.
Es ist notwendig, eine Kultur des Friedens aufzubauen, eine Friedensbewegung wiederzubeleben, die fast verschwunden ist (Wir alle erinnern uns an die Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg. Aber was kam dann? Heute geht niemand mehr auf die Straße, um für den Frieden zu demonstrieren). Und das in einer Zeit, in der der Krieg – wie Papst Franziskus sagt – kein Gespenst der Vergangenheit, sondern unserer Gegenwart ist (mit über dreißig Konflikten weltweit und unsäglicher Gewalt, deren erste Opfer oft die Kinder sind). Heute akzeptieren wir den Krieg oft als unausweichliches Schicksal der Menschheit. Aber Frieden ist immer möglich und notwendig, wenn wir eine Zukunft haben wollen (das haben wir in unserer Arbeit für den Frieden weltweit immer beobachten können). Und Frieden bedeutet auch, das Ungleichgewicht in unserer Welt zu überwinden, das den Boden für den Krieg von morgen bereitet. Paul VI. sagt in Populorum Progressio etwas auch heute noch sehr Wichtiges: „Der Überfluß der reichen Länder muß den ärmeren zustatten kommen. Die Regel, die einmal zugunsten der nächsten Angehörigen galt, muß heute auf die Gesamtheit der Weltnöte angewandt werden […] so wird ihr hartnäckiger Geiz das Gericht Gottes und den Zorn der Armen erregen, und unabsehbar werden die Folgen sein […] es geht um das Leben der armen Völker, es geht um die Eintracht der Bürger in den Entwicklungsländern, es geht um den Frieden der Welt.“



Herr Zucconi könnten Sie zum Schluss noch etwas über die Lage auf Lampedusa sagen. Für viele Flüchtlinge ist Lampedusa ja nach wie vor das Tor nach Europa. Nach wie vor wagen sie, von Schleusern betrogen, in Schlauchboote und Kähne gedrängt, die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer und bezahlen die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben in Europa oft mit ihrem eigenen Leben. Sie selbst leben in Rom, also wesentlich näher am Geschehen als die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, die ja in gewisser Hinsicht weit weg von diesen Entwicklungen sind. Wie stellt sich die Lage aus italienischer Sicht dar?

Lampedusa ist das Tor zu Europa, nicht zu Italien. Das ist die Perspektive, mit der Europa auf Lampedusa schauen sollte. Italien und Griechenland können mit der Bewältigung der ankommenden Flüchtlinge nicht allein gelassen werden. Wir müssen auf europäischer Ebene effiziente Rettungsaktionen im Mittelmeer organisieren, denn niemand sollte mehr sein Leben verlieren. Wir müssen endlich eine Umverteilung umsetzen, damit die Migranten auf ganz Europa verteilt werden. Auch Italien bemüht sich und will seinen Teil dazu beitragen, aber es ist mehr Solidarität auf europäischer Ebene erforderlich.


Herr Zucconi, wir danken Ihnen.

  • Das Friedenstreffen im Oktober 2020 in Rom, im “Geist von Assisi", organisiert von Sant´Egidio

  • Das tägliche Abendgebet von Sant´Egidio in der Basilika von Santa Maria in Trastevere

  • Das jährliche Weihnachtsmahl mit den Armen in der Basilika von Santa Maria in Trastevere

  • Die Ankunft eines humanitären Korridors im Flughafen von Fiumicino

  • Eine Schule des Friedens in Afrika

©Fotos: Marco Pavani

Vita: Dr. Cesare Zucconi


(geb.1962 in London), Politologe und Historiker an der staatlichen Universität „La Sapienza“ in Rom, hat seinen Forschungsschwerpunkt in der Neueren Kirchengeschichte und der Neueren Geschichte Europas. Er ist Generalsekretär der Gemeinschaft Sant´Egidio und Mitglied des Internationalen Boards. Ferner ist er Mitglied des Advisory Board des Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS) an der Friedrich Schiller Universität Jena, wo er auch lehrt, sowie des Stiftungsrates der Maximilian Kolbe Stiftung.


Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Herr Zucconi beantwortete diese schriftlich am 24. September 2021.

Dr. Cesare Zucconi im Interview

Humanitäre Korridore und Schulen des Friedens
Der Beginn einer "Reise der Hoffnung"!?

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