Dr.med. Wolfram Hartmann im Interview

Immer mehr Kinder, besonders im schulfähigen Alter, müssen die Hilfe von Logopäden und Ergotherapeuten in Anspruch nehmen, weil sie akute Probleme in der sprachlichen und motorischen Entwicklung haben. Eine Entwicklung, die der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) durch eine bessere Frühförderung, eine Ausweitung der Vorsorgeuntersuchungen und Vernetzung zwischen Ärzten, Eltern, Kindergärten und Schulen besser in den Griff bekommen will.

„Die Kosten für Heilmittel ließen sich um mindestens 75 % reduzieren, wenn die pädagogische Frühförderung der Kinder in Deutschland optimal ausgebaut wäre.“, schätzt Dr. Wolfram Hartmann, der Präsident des BVKJ.

Mit ihm hat Renate Müller De Paoli für Convivio mundi e.V. über die Forderungen der Ärzte gesprochen.

Dr. Wolfram Hartmann
Dr. Wolfram Hartmann


Herr Dr. Hartmann, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte fordert zusätzliche Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche. Sie sagen, was vor 40 Jahren 1971 vorbildlich in Deutschland eingeführt wurde, hinkt heute den gesellschaftlichen Veränderungen hinterher. Wo muss die Politik und somit die gesetzlichen Krankenkassen dringendst nachbessern? Wie soll die Reform aussehen?


Die bisherigen Untersuchungen sind reine Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen, also sekundäre Prävention. Dies ist nicht mehr zeitgemäß. Kinder- und Jugendärzte sind heute zunehmend mit Regulations- und Entwicklungsstörungen (Motorik, Sprache, Sozialverhalten, Kognition, Fehlernährung, gestörte Eltern-Kind-Interaktion) konfrontiert, die keine medizinischen Ursachen haben, sondern vorwiegend durch pädagogische Defizite und soziale Umstände der Lebensbedingungen von Kindern bedingt sind. Daher müssen diese Untersuchungen ein ganz wesentliches Augenmerk auf primäre Prävention legen, also Elternführung und -begleitung. Auch muss die Lücke im Grundschulalter geschlossen werden, denn hier sehen wir zunehmend Verhaltensstörungen, psychosomatische Störungen, Ängste, Depressionen, Ticks, Störungen des Sozialverhaltens. Dazu muss der Gesetzgeber den § 26 SGB V ändern.

Das Wissenschaftliche Institut der AOK geht im „Heilmittelbericht 2010“ davon aus, dass inzwischen rund jeder vierte sechsjährige Junge zur Unterstützung der sprachlichen Entwicklung einen Logopäden aufsuchen muss, bei den gleichaltrigen Mädchen geht jedes Siebte zum Logopäden. Bei breiter, guter Sprachförderung durch Eltern, Krippe und Kindergarten könnten diese Kosten zum Großen teil eingespart werden? Wieso springen die Gesetzlichen Krankenkassen nicht sofort auf Ihren „Reformzug“ auf?

Dies ist uns unbegreiflich. Wir sprechen diese Thematik regelmäßig bei den Kassen an und versuchen, in Selektivverträgen entsprechende Versorgungsvereinbarungen zu schließen. Viele Kassen haben aber Angst, dass durch intensivere Präventionsmaßnahmen zunächst die Kosten steigen. Langfristiges Denken ist bei den Kassen heute noch nicht üblich, obwohl viele Untersuchungen aus dem Ausland gerade der primären Prävention ein sehr gutes Zeugnis hinsichtlich der Kosteneinsparungen ausstellen. Ein gutes Beispiel sind hier die Impfungen. Aber auch die Politik muss endlich mit einem wirksamen Präventionsgesetz ihren Teil zur primären Prävention durch optimale Ausgestaltung der frühen Förderung bereits der unter Dreijährigen und standardisierter Förderung im Kindergartenalter beitragen. Die Kosten für Heilmittel ließen sich um mindestens 75 % reduzieren, wenn die pädagogische Frühförderung der Kinder in Deutschland optimal ausgebaut wäre. Das Medizinsystem kann diese Probleme nicht lösen.

Es ist umso weniger nachvollziehbar, da die Privaten Krankenkassen diesen Weg schon beschritten haben. Wer mit seinen Kindern privat versichert ist, kann doch diese vier neuen Untersuchungen im Alter von 3, 7–8, 9–10 und 16–17 Jahren schon in Anspruch nehmen. Können die Privaten besser rechnen, denn Prävention z. B. durch Sprachförderung spart ja am Ende enorme Mittel?

Das ist so leider nicht richtig. Der Gesetzgeber hat zwar bei der privaten Gebührenordnung entsprechende Möglichkeiten der regelmäßigen jährlichen Vorsorgeuntersuchungen für Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr geschaffen, aber etliche private Kassen und ganz besonders die Beihilfestellen der Beamten weigern sich, die Kosten für Untersuchungen außerhalb der gesetzlichen Vorsorgeuntersuchungen zu übernehmen. Hier können die privaten Kassen auch nicht besser rechnen als die gesetzlichen Kassen. Die U7a plus, die U10, die U11 und die J2 können inzwischen viele GKV-Versicherte kostenlos in Anspruch nehmen, da unser Verband mit einer Vielzahl von Kassen entsprechende Selektivverträge abgeschlossen hat. Einen Überblick über diese Verträge finden Sie unter www.kinderaerzte-im-netz.de. Leider weigert sich die DAK als einzige große bundesweite Kasse bisher, mit uns einen entsprechenden Vertrag abzuschließen.

Warum ist aus Ihrer Sicht gerade die zusätzliche Untersuchung im Alter von 3 Jahren so wichtig?

Die U7a ist ja inzwischen eine gesetzliche Untersuchung und wird von über 92 % aller Kinder in Anspruch genommen. Sie erfasst einen Zeitraum, in dem wesentliche Entwicklungsschritte insbesondere im Bereich der Sprache, der Motorik, des Sozialverhaltens und der Kognition ablaufen. Auch die Sehfähigkeit eines Kindes lässt sich in diesem Alter weitaus besser prüfen als in den ersten beiden Lebensjahren. Die Lücke zwischen der U7 mit 2 Jahren und der U8 mit 4 Jahren war einfach zu groß, das haben auch Politik und Kassen inzwischen eingesehen.

Angesichts der ökonomischen und sozialen Entwicklung herrscht ja in vielen Familien eine gewisse „Sprachlosigkeit“. Das Frühstücksbrot für die Schule fehlt bei vielen Kindern ebenso wie die täglichen gemeinsamen Mahlzeiten, bei denen man sich austauschen kann, wie auch vorlesende und vor allem zuhörende Großeltern. Welche Erfahrungen haben Sie mit Eltern? Zeigt sich dort nicht auch ein großer Beratungsbedarf, der bisher überhaupt nicht einkalkuliert, aber dennoch ein entscheidender Hebel ist?

Auf die pädagogischen Defizite in vielen Familien habe ich ja bereits hingewiesen. Insbesondere Kinder aus bildungsfernen Familien ohne ausreichende Anregungen im häuslichen Umfeld machen uns hier große Sorgen.

Stehen wir in Deutschland nicht auch vor dem Problem, dass Kinder- und Jugendärzte viel besser mit Krippen, Kindergärten und Schulen zusammenarbeiten müssten, um schneller reagieren zu können?

Das war zweifellos in der ehemaligen DDR besser geregelt. Durch den massiven Abbau des kinder- und jugendärztlichen Dienstes im Öffentlichen Gesundheitsdienst gibt es keine regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen (Ausnahme: Zahngesundheit) in den Kindergärten und Schulen mehr, den Lehrerinnen und Lehrern fehlen die kompetenten Ansprechpartner, die Schweigepflicht verhindert zudem eine Zusammenarbeit von Bildungs- und Gesundheitswesen zum Wohle des Kindes. Die Zusammenarbeit aller Professionen, die mit Kindern zu tun haben, in Netzwerken ist sehr wichtig, aber dafür gibt es derzeit keinerlei Finanzierung. Der BVKJ hat dies immer wieder bei der Politik angemahnt. Das ist Sozialpädiatrie im engeren Sinn, sie ist unbedingt erforderlich, um den Kindern zu einem guten Start ins Leben zu verhelfen, sie muss aber auch vergütet werden.

Wie sieht es mit dem Medienkonsum aus, oft sind die modernen Medien, ob Fernsehen oder Computer, wohl gelittene „Babysitter“? Welche Konsequenz hat das auf die Entwicklung in diesen Altersstufen?

Dies ist ein sehr ernstzunehmendes Problem. Kinder unter drei Jahren haben z.B. vor dem Fernseher überhaupt nichts zu suchen. Es ist in höchstem Maße unverantwortlich, wenn Fernsehsender Programme für Kleinstkinder konzipieren. Kinder ab 3 Jahren dürfen maximal 30 Minuten pro Tag zusammen mit ihren Eltern kindgerechte Sendungen anschauen und besprechen, im Grundschulalter sind 40 bis 60 Minuten die absolute Obergrenze. Vorlesen, gemeinsames Spielen, Singen und Musizieren sind ganz wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung von Sprache, Sozialkompetenz, Aufmerksamkeit, Feinmotorik usw., hier sind Eltern in der Pflicht, ihre Kinder entsprechend zu fördern.

Herr Dr. Hartmann, der Verband der Kinder- und Jugendärzte beklagt, dass in Deutschland Impfen freiwillig ist. Sie sagen: „Kinder in Entwicklungsländern sind teilweise besser geimpft als in Deutschland“. Welche Folgen hat die Impffreiwilligkeit? Welche Krankheitsbilder tauchen bei Ihren kleinen, jungen Patienten inzwischen wieder auf?

Erfreulicherweise ist die Zahl der harten Impfgegner in Deutschland nicht so hoch, wie es manchmal den Anschein hat. Viele Eltern werden aber durch unwissenschaftliche Medienberichte verunsichert und zögern, ihre Kinder umfassend und rechtzeitig zu impfen. Auch Ärztinnen und Ärzte tragen leider immer wieder zu solchen Verunsicherungen bei. Das ist nicht in Ordnung, denn die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission in Deutschland entsprechen dem wissenschaftlichen Standard. Wir sehen ja in Deutschland immer wieder Ausbrüche von Masern mit teilweise tödlichen Folgen oder bleibenden Behinderungen, wir sehen unnötige Meningitiserkrankungen oder auch Erkrankungen an Windpocken, Mumps und Hepatitis, die eigentlich vermeidbar sind.

Wie sieht es in anderen Ländern aus? Gibt es Modelle, von denen Deutschland lernen könnte?

In den USA und einigen anderen Ländern gilt die Regel: „no vaccination – no school“. Das wäre das Mindeste, das man auch in Deutschland einführen sollte. Wer einen staatlich finanzierten Kindergarten oder eine staatlich finanzierte Schule besuchen möchte, sollte nachweisen müssen, dass er komplett gemäß den öffentlichen Empfehlungen geimpft ist und somit kein Risiko für Kinder darstellt, die entweder aufgrund ihres Alters (z.B. Säuglinge gegen MMR) oder aufgrund besonderer Erkrankungen (z.B. Immunmangeldefekte) nicht geimpft werden können. Es gab ja früher in Deutschland bereits eine Impfpflicht gegen Pocken und diese Impfung hatte im Gegensatz zu den heute bei uns empfohlenen Impfungen ganz erhebliche Nebenwirkungen.


Herr Dr. Hartmann wir danken Ihnen.

Vita von Dr.med. Wolfram Hartmann


Curriculum vitae

Lebensdaten:

*
Geboren 1945 in Siegen, verheiratet.
* Studium der Medizin in Marburg, 1974 Promotion.
* ab 1974 pädiatrische Ausbildung an der DRK-Kinderklinik Siegen (Allgemeine Pädiatrie, Kinderchirurgie, Neuropädiatrie, Neonatologie, Intensivmedizin, Sozialpädiatrie)
* Niederlassung 1979 in eigener Praxis in Kreuztal (Kreis Siegen-Wittgenstein), ab 01.10.2003 in Gemeinschaftspraxis. Seit 01.07.2010 im Ruhestand.

Berufspolitische Tätigkeit:

*
Seit 1991 Vorstandsmitglied im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte.
* Im Oktober 2002 Wahl durch die Delegiertenversammlung zum Präsidenten des BVKJ ab 01.11.2003, im Oktober 2006 Wiederwahl für eine zweite Amtsperiode bis 31.10.2011, im Oktober 2010 erneute Wiederwahl für die dritte Amtsperiode bis 31.10.2015.
* 1993 bis 1997 Mitglied der VV der KV Westfalen-Lippe, von 2001 bis 2004 stellvertretender Vorsitzender des Beratenden Fachausschusses für die Hausärztliche Versorgung bei der KV Westfalen-Lippe, von 2000 bis 2010 stellvertretender Vorsitzender des Beratenden Fachausschusses für die Hausärztliche Versorgung bei der KBV.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Mittwoch, 20. Juli 2011

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