Martin Schulz im Interview
„Ich möchte, dass das Europa-Parlament, DIE demokratisch direkt legitimierte Volksvertretung der EU, stärker eingebunden und zum zentralen Schauplatz wird, wo sich die Regierungschefs für ihr Handeln oder eben auch Nicht-Handeln gegenüber den Bürgern verantworten müssen.“, erklärt Martin Schulz, der im Januar diesen Jahres gewählte Präsident des Europäischen Parlamentes, gegenüber Renate Müller De Paoli.
"Quo vadis Europa?“, ist die Frage, die jeden Europäer inzwischen angesichts des rauen politischen Klimas beschäftigt. Der Europäische Rat entscheidet und beschließt, gejagt von Rating-Agenturen und Finanzinstitutionen, unanfechtbar hinter verschlossenen Türen über die Zukunft ganzer Nationen. Die Bürger verbinden hingegen die Arbeit des Europäischen Parlamentes in der jetzigen Krise – überspitzt gesagt – mit der Normierung von Gurken. Wie erklären Sie diese Ohnmacht der demokratisch gewählten Parlamentarier?
Diese Ohnmacht gibt es nicht, genauer: es gibt sie schon lange nicht mehr! Das Europäische Parlament hat im Zuge der vergangenen Vertragsreformen schrittweise immer mehr Zuständigkeiten bei der EU-Gesetzgebung hinzugewonnen. Das Beispiel mit den Gurken war – mit Verlaub – schon vor Jahrzehnten daneben. Die Frage: "Wohin Europa?" treibt mich aber in der Tat um: Der Europäische Rat – also die 27 Staats- und Regierungschefs – reißt in diesen Krisenzeiten immer mehr Entscheidungen an sich, sie fallen – wenn sie denn überhaupt fallen – intransparent in Hinterzimmern. Mein Ziel als neuer Präsident ist es, dieses Parlament zum Schauplatz durchaus auch kontroverser Debatten zu machen; zu dem Ort, an dem sich die "Chefs" vor den gewählten Volksvertretern für ihr Handeln verantworten müssen. Die handelnden Personen sollen sichtbarer und hörbarer werden – bei uns, in Brüssel und Straßburg.
Altkanzler Helmut Schmidt hat in einer Rede Anfang Dezember 2011 auf dem SPD-Parteitag seine Enttäuschung über das Europäische Parlament zum Ausdruck gebracht; wörtlich: „Nicht nur der Europäische Rat inklusive seiner Präsidenten, ebenso die Europäische Kommission inklusive ihres Präsidenten, dazu die diversen Ministerräte und die ganze Brüsseler Bürokratie haben gemeinsam das demokratische Prinzip beiseite gedrängt! Ich bin damals, als wir die Volkswahl zum Europäischen Parlament einführten, dem Irrtum erlegen, das Parlament würde sich schon selbst Gewicht verschaffen. Tatsächlich hat es bisher auf die Bewältigung der Krise keinen erkennbaren Einfluss genommen, denn seine Beratungen und Entschlüsse bleiben bisher ohne öffentliche Wirkung.“ Und er appellierte an die Abgeordneten und besonders an Sie, den jetzigen Präsidenten des Europäischen Parlamentes, den „Aufstand“ zu wagen. Ist dieser Aufstand in Sicht?
Mit "Aufstand" meinte Helmut Schmidt wohl, dass wir dem Rat zeigen sollen, dass er mit uns zu rechnen hat. Ich denke, das ist mir gelungen: Ich habe bereits bei meiner Antrittsrede im vergangenen Januar jenen den Kampf angesagt, die meinen, ein Mehr an Europa lasse sich mit einem Weniger an Parlamentarismus schaffen. Ich habe gegenüber den Staats- und Regierungschefs im Rat Tacheles geredet und dort lebhafte Debatten angestoßen. Vor diesem Parlament hat sich Ungarns Premier Viktor Orbán für seine umstrittene Europapolitik rechtfertigen müssen, und dieses Parlament hat sehr öffentlichkeitswirksam zu verstehen gegeben, dass es die aktuellen Krisenbewältigungsstrategien der Regierungen für unzureichend hält.
Welche Befugnisse müsste das Europäische Parlament bekommen, um die Durchsetzung einer notwendigen Finanzmarkt-Regulierung zu befördern, über die spätestens seit der Lehmann-Pleite 2008 in Europa gesprochen wird?
Ich weite meine Antwort aus. In Sachen Finanzmarktregulierung hat das Parlament schon vergleichsweise viele Befugnisse und hat diese auch spürbar genutzt. Aber wir verlangen generell, auf Augenhöhe mit dem Rat an Beschlüssen über zentrale europäische Weichenstellungen mitverhandeln zu können: was die künftige mehrjährige EU-Haushaltsplanung betrifft, die Reform der Agrar- oder Regionalpolitik, Klimaschutz oder strittige Fragen der Innen- und Rechtspolitik. Dies alles sind Dinge, die die Menschen in Europa unmittelbar betreffen!
Viele Experten fordern einen Infrastruktur- und Investitionsplan im Geiste des Delors-Plans für Europa. Sie warnen, kein Staat könne seinen Haushalt ohne Wachstum und Schaffung von neuen Arbeitsplätzen sanieren und warnen vor einer Gefährdung der Demokratie. Stimmen Sie dem zu?
Ich teile derlei Sorgen. Ja, wir brauchen in Europa solide Finanzen und ausgeglichene Haushalte. Aber, wir dürfen uns nicht kaputt sparen. Wenn sie die dramatischen Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit in Spanien oder Griechenland sehen, wird klar, wie groß das Frustpotenzial einer ganzen Generation ist und wie dieses droht, sich irgendwann auch gegen Europa zu wenden.
Wir müssen den Menschen wieder Hoffnung, Motivation und Perspektiven geben. Rezepte dazu bestehen schon längst, sie werden nur von den Mitgliedstaaten sträflich vernachlässigt. Ich denke da vor allem an die Strategie EU-2020, die eine Fülle Wachstums- und Beschäftigungs-Stimulierender Maßnahmen vorsieht: in den Bereichen Forschung, Verkehr, Energie oder Soziales.
Ton und Stimmung haben sich in Europa verändert. Beschuldigungen gehen inzwischen oft unter die Gürtellinie. Mit den Ängsten der Bürger wird gespielt, und das gemeinsame Ziel droht verloren zu gehen. Drohen wir etwa in Deutschland aufgrund unserer ökonomischen Stärke die Sensibilität für unsere europäischen Nachbarn zu verlieren?
Ich sage grundsätzlich: Alle Entscheidungsträger in Europa, aber auch die Medien tragen Verantwortung für den Umgang miteinander und den Ton. Die Menschen in den Partnerländern pauschal als faul und undankbar zu verunglimpfen ist genauso inakzeptabel wie Regierungschefs in Kriegs- oder Nazi-Uniformen darzustellen oder Websites einzurichten, in denen Bürger missliebige Ausländer anschwärzen sollen. Es ist leider unverkennbar, dass dieses wunderbare europäische Friedensprojekt, mehr als 50 Jahre nach seiner Gründung, in großer Gefahr ist, weil Nationalismus und Stereotypen EU-weit auf dem Vormarsch sind.
Welche entscheidenden Veränderungen sind für den Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz, unabdingbar, um die Europäische Union politisch und wirtschaftlich zu stärken? Als erfahrener Europapolitiker unterstreichen Sie, dass der Ort, an dem über die Zukunft Europas verhandelt werden muss, der „Ort der europäischen Legitimität und der Legitimierung des Handelns der europäischen Organe“ das Europäische Parlament ist. Welche Steine stehen da im Wege?
Ich verweise auf meine erste Antwort: Ja – Entscheidungen sind dringend nötig, aber wo und vor allem wie kommen sie denn zustande? Seit nun mehr als zwei Jahren kommen die 27 Staats- und Regierungschefs alle paar Monate zusammen. Sie wecken permanent bei den Bürgern die Hoffnung darauf, dass Lösungen für die Krise gefunden werden. Und was ist in den meisten Fällen geschehen? Lösungen wurden verschoben, oder Beschlüsse – wenn sie denn getroffen wurden – dann nicht umgesetzt. Ich möchte, dass das Europa-Parlament, DIE demokratisch direkt legitimierte Volksvertretung der EU, hier stärker eingebunden und zum zentralen Schauplatz wird, wo sich die Regierungschefs für ihr Handeln oder eben auch Nicht-Handeln gegenüber den Bürgern verantworten müssen.
Wie kann die föderative Struktur in Europa so weiterentwickelt werden, dass Europa nur noch mit einer Stimme spricht?
Was alte Ideen eines europäischen Bundesstaates angeht, bin ich skeptisch. Auch das Wunschkonzept meiner Jugendzeit, die Vereinigten Staaten von Europa, halte ich – leider – derzeit nicht für realisierbar. Aber ich verweise auf den ja noch relativ neuen EU-Vertrag von Lissabon: Er gibt vor, dass der nächste Präsident der EU-Kommission gewählt wird unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Europawahl. Das heißt, ich gehe davon aus, dass die großen europäischen Parteien, 2014 mit einem gemeinsamen gesamteuropäischen Spitzenkandidaten oder einer Spitzenkandidatin für die Wahl des Kommissionspräsidenten antreten. Ich bin sicher, dass dieses Verfahren bei den Bürgern für mehr Klarheit und mehr Durchschaubarkeit sorgen wird. Es gibt ja auch bereits den Vorschlag, die Position von Herrn Van Rompuy und von Herrn Barroso, also Präsident des Europäischen Rats bzw. der Kommission zusammenzulegen. Das würde bedeuten, dass der Präsident der Kommission auch den Vorsitz bei den Staats- und Regierungschefs führt. Ich halte es für vernünftig, darüber nachzudenken. Und wie gesagt, der Präsident der Europäischen Kommission, der eine Art Regierungschef von Europa werden wird, sollte durch das Europäische Parlament gewählt werden. Dann wissen die Bürger auch, wohin ihre Stimme geht, und die Vielstimmigkeit im EU-Chor würde hoffentlich etwas gemindert.
Herr Präsident wir danken Ihnen.
Vita von Martin Schulz
Am 20. Dezember 1955 in Hehlrath geboren, beginnt Martin Schulz 1974 seine politische Karriere in Würselen. Nach dem Besuch des Heilig Geist Gymnasiums verbindet er seine große Leidenschaft Lesen mit einer 2jährigen Ausbildung als Buchhändler. Seine Tätigkeiten für verschiedene Buchhandlungen und Verlage bildet die Basis für die 1982 eröffnete eigene Buchhandlung in Würselen, die Martin Schulz bis 1994 erfolgreich führt.
Den Grundstein für seine politische Karriere legt Martin Schulz 1974 mit dem Eintritt in die SPD. Als Vorsitzender des Juso-Stadtverbandes Würselen und später des Juso-Unterbezirks Kreis Aachen geht er erste erfolgreiche Schritte in der Politik.
Mit weiterem Engagement im SPD Ortsverein und Stadtverband sowie im SPD Unterbezirk Kreis Aachen wächst die Erfahrung und politische Kompetenz, auf deren Grundlage Martin Schulz 1984 in den Rat der Stadt Würselen gewählt wird.
3 Jahre später nimmt er eine weitere Hürde seiner politischen Laufbahn: mit 31 Jahren wird Martin Schulz 1987 jüngster Bürgermeister Nordrhein-Westfalens. Er lenkt und prägt in seiner 11jährigen Amtszeit bis 1998 das kommunale aber auch regionale Geschehen Würselens. Bereits seit 1984 ist er Vorstandsmitglied des SPD-Unterbezirks Kreis Aachen und hat dessen Vorsitz seit 1996. Seit 2001 ist er Mitglied des SPD-Parteivorstandes und Mitglied des Parteipräsidiums.
Seit 1994 vertritt Martin Schulz als Europaabgeordneter die 5 SPD-Wahlkreise Stadt und Kreis Aachen sowie die Kreise Euskirchen, Heinsberg und Düren im Europäischen Parlament, seit 2004 den gesamten Regierungsbezirk Köln. Von 2000 bis 2004 war er Vorsitzender der SPD-Abgeordneten im Europaparlament und von 2004 – Januar 2012 Vorsitzender der zweitgrößten Fraktion im Europäischen Parlament, der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten.
Am 17. Januar 2012 wurde er mit großer Mehrheit zum Präsidenten des Europäischen Parlaments gewählt.
Martin Schulz ist verheiratet und hat 2 Kinder.
Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Donnerstag, 29. März 2012
Bildnachweis: http://www.europarl.europa.eu