„Mein Traum ist es, Astronautin oder ..."

„Mein Traum ist es, Astronautin oder Astronomin zu werden …".

Zitiert Alea Horst, Autorin und Fotografin, die 14-jährige Elahe aus Afghanistan in ihrem berührenden Buch „Manchmal male ich ein Haus für uns – Europas vergessene Kinder“, erschienen im Klett Kinderbuch Verlag. Es zeigt Aufnahmen, die Horst im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos gemacht und Interviews, die Sie mit den dort lebenden Kindern und Jugendlichen im Lager geführt hat und ihre Hoffnungen, Träume und Ziele beschreiben. Seit 2016 ist Alea Horst als Nothelferin in den verschiedensten Krisen- und Kriegsgebieten für Hilfsorganisationen im Einsatz. Gegenüber Convivio mundi berichtet sie von einer „ständigen Retraumatisierung“ der Kinder und fordert „eine sofortige Evakuierung der Lager. 70% der Menschen in den Lagern erhalten eine positive Antwort. Sie werden und müssen irgendwann Teil unserer Gesellschaft werden.“

Buchcover „Manchmal male ich ein Haus für uns – Europas vergessene Kinder“

(© Klett Kinderbuch Verlag GmbH)

Frau Horst, laut Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) sind bisher aufgrund der Angriffe des russischen Militärs 6,4 Millionen Menschen aus der Ukraine auf der Flucht. Eine schwindelerregende Zahl, darunter vor allem Kinder und Jugendliche. Sie selbst haben zwei Kinder und waren als Nothelferin in vielen Krisen- und Kriegsgebieten. Was ist für Sie das Schlimmste, das diese Kinder und Jugendlichen plötzlich schultern müssen?

Insgesamt sind aktuell 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Fast die Hälfte davon sind Kinder. In den nächsten Jahren werden es allein durch den Klimawandel weitere 200 Millionen werden. In der Regel sind die Kinder mehreren Traumata ausgeliefert. Es ist nicht nur das Trauma durch schreckliche Erlebnisse im Heimatland, sondern häufig auch Todesangst auf der Flucht, der Verlust von Freunden und Familienangehörigen oder die ständige Angst um sie, wenn sie zurückbleiben mussten. Normalerweise bräuchten die Kinder sofort einen sicheren, ruhigen Ort, um das Fluchttrauma zu verarbeiten. Aber Flüchtlingslager sind furchtbare Orte, die die Kinder erneut traumatisieren. In vielen Lagern sind sie Gewalt ausgeliefert, Feuern, der ständigen Lautstärke, mangelnder Hygiene, dazu kommt der Druck durch Behördenwillkür, die ständige Angst wieder abgeschoben zu werden und gleichzeitig keinen Zugang zu Bildung zu erhalten. Denn sie wissen alle: nur durch Bildung wird irgendwann ein besseres Leben möglich sein. Diese ständige Retraumatisierung können Kinder nicht verkraften.



Wo sind Sie bisher als Nothelferin im Einsatz gewesen?

Angefangen hat alles in Lesbos, wo ich mittlerweile acht Einsätze hatte; ich war allerdings auch schon in Bihac in Bosnien-Herzegowina und auf dem Mittelmeer mit anpacken. Für Hilfsorganisationen als Fotografin und zum Sammeln von Texten war ich in Syrien, Bangladesch, Mexiko, El Salvador, Tunesien, Israel-Palästina, Kroatien, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Jordanien, Afghanistan, Sri Lanka, Namibia, Ghana, Äthiopien und zuletzt auf den Kap Verden.



Welche Aufgaben übernehmen Sie ansonsten noch bei den Einsätzen?

Das kommt immer auf den Einsatzort an. Nicht selten sortiere ich Sachspenden, fahre Menschen in Not zu Ärzten, kaufe Decken/Kleidung/Medikamente/Lebensmittel/Schulmaterialien, koordiniere Spenden oder übernehme Fahrdienste von Menschen mit Behinderungen. Ich habe aber auch schon Erste Hilfe geleistet (auch seelische) bei Anlandungen und Schlafplätze koordiniert oder Projekte miteinander vernetzt. Ich mache Reports, dokumentiere Verteilaktionen oder bin einfach jemand, der den Menschen zuhört und ihnen zeigt, dass sie keine lästige Nummer sind, die nur stört und Arbeit macht.


Wie lange dauert ein Hilfseinsatz normalerweise?

Normalerweise bin ich gut drei Wochen vor Ort.


Aber eigentlich sind Sie Fotografin, wie sind Sie zur Nothelferin geworden?

Ich habe irgendwann die Bilder und Videos aus Syrien und vom Mittelmeer nicht mehr ausgehalten. Viele Jahre habe ich mich gefragt, warum meine Großeltern nichts getan haben im Dritten Reich. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass ich jetzt die Chance habe, es anders zu machen als sie. Ich wollte mir am Ende meines Lebens nicht von meinen Enkeln vorwerfen lassen, nichts getan zu haben. Als ich damals am Strand das erste Mal Menschen mit Todesangst in die Augen schaute, riechen konnte, wie Entbehrung riecht, so viele Tränen tröstete, wurde mir das wahre Ausmaß erst richtig deutlich. Ich hatte vorher keine Ahnung von der Dimension des Abgrunds.

„Manchmal male ich ein Haus für uns – Europas vergessene Kinder“ ist der Titel eines herzzerreißendes Buches, das der Klett Kinderbuch Verlag Anfang des Jahres herausgebracht hat. Es zeigt Aufnahmen, die Sie im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos gemacht haben und Interviews, die Sie mit den dort lebenden Kindern und Jugendlichen im Februar 2021 im Lager geführt haben. Wie offenherzig sie über ihr Leben, ihre Hoffnungen und Träume mit Ihnen sprechen, ist verblüffend und erstaunlich. Wie gelingt es Ihnen, das Vertrauen der Eltern und Kinder zu gewinnen? Wie schaffen Sie diese Vertrautheit?

Viele Kinder kannten mich. Ich hatte im alten Lager Moria ein Schulprojekt unterstützt und viele Familien mit Lebensmitteln versorgt. Ich war nach dem Brand für sie da, weil ich eine der wenigen Helferinnen war, die überhaupt zu ihnen durchgelassen wurde. Ich unterstütze ein medizinisches Projekt, wo Eltern und Kinder Unterstützung erhalten. Die Kinder spüren anscheinend, dass ich es gut mit ihnen meine und nicht einfach eine Story von ihnen haben möchte. Ich gehe mit äußerster Achtsamkeit mit den Kindern um, nehme sie sehr ernst, gleichzeitig lachen wir viel zusammen; ich zeige mich selbst von meiner menschlichen Seite und habe überhaupt keine Berührungsangst. Vielleicht ist es das, was diese Atmosphäre schafft.


Und Ihre Kamera, welche Rolle spielt die Kamera dabei?

Das Bild steht nie im Vordergrund. Ich bemühe mich keine Draufsicht zu produzieren, wie das sonst fotojournalistisch üblich ist, sondern immer meine Begegnung mit den Menschen sichtbar zu machen. Es ist meine Sicht auf die Dinge. Das verstört manchmal den Betrachter. Viele Menschen sind es nicht mehr gewohnt, dass sie von Menschen auf Fotos angesehen werden; dass Menschen in Not ein Gesicht haben und so sind wie du und ich.


Wie gehen Sie selbst damit um? Wie ertragen Sie diese, für die Kinder absolut ausweglose Situation. Da ist z.B. die 11-jährige Rukia aus Syrien, die Sie im Buch zitieren: „… Uns will niemand haben. Ich glaube auch, dass Deutschland voll ist. Das dort vielleicht auch einfach kein Platz ist. Das Problem ist, dass wir das ja auch wissen. Aber wo können wir hin? Wo sollen wir hin? Wir würden ja nach Syrien gehen, wenn es sicher wäre. Aber das ist es nicht. Was sollen wir tun? Es geht überall nur um Geld.“

Ich bekomme diese Frage immer gestellt und möchte das ganze ins Verhältnis setzen: Ich schaue Rukia in die Augen, ihre Worte und mitanzusehen, wie sie Leben muss, schmerzt mich. Viel mehr schmerzt mich aber, zuhause in Deutschland gegen Wände voller Ignoranz zu kämpfen. Anhören zu müssen, dass es einen zu traurig macht, was die Kinder sagen und man besser Augen und Ohren zuhält und sich politisch nicht positionieren will. Was soll ich Rukia sagen, wenn ich sie das nächste Mal sehe? Sorry Rukia, die Menschen in Deutschland macht deine Geschichte zu traurig! Sie sind auch alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich für dich einzusetzen?
Ich sitze jedes Mal am Flughafen, wenn ich gehe und schäme mich. Ich kann diesen Ort verlassen und die Menschen, die es dringend nötig, haben nicht. Nur wegen eines Stück Papiers.
Ich treffe viele außergewöhnliche Menschen. Die Kinder im Buch, die Familien in den Lagern, die mich lächelnd zum Tee einladen und jeden Morgen aufstehen und mich freundlich begrüßen. Sie geben auch nicht auf, ihre Not ist um so vieles größer als das, was ich ertrage. Und es gibt auch diese fantastischen Helfer in den Projekten. Die vor scheinbar unbezwingbaren Herausforderungen stehen und sich entschlossen die Ärmel hochkrempeln. Sie alle inspirieren mich, nicht aufzugeben.

„Fotos von mir bei der Arbeit"

zum Vergrößern bitte Bilder anklicken (© Fotos: Alea Horst)

Welche Weichen müssten wir anders stellen, um diesen jungen Menschen, eine bessere und sichere Zukunft zu geben? Jugendliche, die ein Riesenpotential haben und selbst in dieser ausweglosen Lage mit ihren Zukunftsträumen und Zielen überraschen, wie die 14-jährige Elahe aus Afghanistan, die Ihnen in Kara Tepe gesagt hat: „… Mein Traum ist es eigentlich, Astronautin oder Astronomin zu werden. Ich liebe die Sterne und die Planeten. […] Wenn ich mir nachts die Sterne am Himmel ansehe, dann bekomme ich ein so gutes Gefühl, das kann ich so gar nicht beschreiben. Ich vergesse dann alles um mich herum und fühle mich unendlich gut.“
Was muss in Europa anders laufen?


Ghettos waren noch nie eine gute Idee. Wir brauchen eine sofortige Evakuierung der Lager. 70% der Menschen in den Lagern erhalten eine positive Antwort. Sie werden und müssen irgendwann Teil unserer Gesellschaft werden. Aber durch die ständige Retraumatisierung arbeiten wir daran, sie gesellschaftsunfähig und psychisch krank zu machen. Kinder, die jahrelang nicht in die Schule gehen, Erwachsene, die der ständigen Willkür ausgeliefert sind, die am eigenen Leib erfahren, dass Menschenrechte nicht für sie gelten, verlieren ihr Urvertrauen in eine funktionierende Gesellschaft und daran, dass es der Nächste gut mit ihnen meint.
Und viel wichtiger: wir müssen endlich über Fluchtursachen reden. Solange wir keine ethisch faire Ökonomie wollen, sind wir immer und überall mitverantwortlich an diesem riesigen Ungleichgewicht – ob durch Ausbeutung oder durch Destabilisierung, von der wir profitieren. Wir verdienen an Waffen, Rohstoffen und verbrauchen ein Vielfaches an Erden im Vergleich. Man kann mitansehen, wie wir Menschen durch unseren Lebensstandard die Lebensgrundlage entziehen. Gewalt ist dann nur ein Resultat. Hilfsorganisationen sind wichtig und leisten fantastische Arbeit. Aber sie können das Loch nicht stopfen, was der Kapitalismus entstehen lässt.



Welche Reaktionen haben Sie bisher auf Ihr Buch „Manchmal male ich ein Haus für uns“, das auch die UNO-Flüchtlingshilfe empfiehlt?

Viele Menschen sind sprachlos, wenn sie das Buch lesen, die meisten, die mir Rückmeldung geben, berichten mir, dass es sie sehr bewegt hat. Ich bekomme durchweg sehr positive Rückmeldungen, weil die Worte der Kinder einfach ganz tief gehen. Es ist ein sehr mutiges Buch, weil das Thema so unbequem ist, und das Team vom Klett Kinderbuch Verlag hat da meinen größten Respekt, dass sie das Buch herausgegeben haben. Aber natürlich muss man auch nur das Wort „Flüchtling“ sagen und schon kommen Anfeindungen von rechts. Das bin ich seit Jahren gewöhnt.


Haben Sie Lesungen in Schulen? Wie reagieren Schüler auf Ihre Berichte und Erfahrungen?

Die Lesungen in den Schulen sind außergewöhnliche Begegnungen. Wir Erwachsene können so viel von Kindern lernen. Kinder haben nämlich nicht diese lähmende Hilflosigkeit, die wir Erwachsenen haben. Wir trauen Kindern auch oft viel zu wenig zu. In den Lesungen arbeiten die Kinder sehr aktiv mit, stellen viele Fragen und haben zahlreiche Ideen, was man machen kann. Krieg und Vertreibung sind häufig Tabu-Themen. Mit mir können sie da offen drüber sprechen. Ganz besonders ist es, wenn Kinder mit Fluchthintergrund im Publikum sitzen. Meistens sind sie still am Anfang und gegen Ende teilen sie dann auf einmal ihre eigene Geschichte. Erst letzte Woche waren über 60 MitschülerInnen mucksmäuschen still, als ein 9-jähriger Junge aus Syrien davon erzählt hat, wie auf sein Boot geschossen wurde und wie sehr er geweint hat, als er einen Tag seine Mutter auf der Flucht verloren hatte. Und wenn ich nur für diese Kinder ein winziges bisschen Sensibilisierung geschaffen habe, hat sich die ganze Arbeit schon gelohnt!

Woher nehmen Sie immer wieder die Kraft und Motivation für die Einsätze?

Ich habe bisher in verschiedenen Branchen gearbeitet und hatte aber zuvor noch nie das Gefühl, an einer wirklich wichtigen und richtigen Sache zu arbeiten. Eine Arbeit zu verrichten, die tatsächlich für Menschen einen Unterschied macht, auch wenn er noch so klein ist, gibt ein gutes Gefühl. Nur wenn man etwas tut, wird es erträglich. Und wie schon erwähnt: ich treffe unglaublich inspirierende Menschen. Die Mutter in den Slums von Dhaka, die jeden Tag aufs Neue alles gibt, obwohl sie nicht weiß, wie sie Nahrung für ihre Kinder organisieren soll. Menschen in Lagern, die nicht aufgeben! ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, SeenotretterInnen, Politische AktivistInnen, die einen so langen Atem haben und sich für Menschlichkeit einsetzen. Da draußen sind viele gute Menschen, ich bin nicht allein. Manchmal werde ich belächelt und mir wird gesagt, dass es verrückt ist, etwas ändern zu wollen. Nachdem ich so viel gesehen habe, kann ich sagen: es ist andersherum. Wer heute immer noch glaubt, dass wir so weiter machen können, den halte ich für verrückt.


Frau Horst, wir danken Ihnen.

Vita: Alea Horst

Alea Horst, geb. 1982, ist Fotografin, Friedensaktivistin, Nothelferin und Autorin. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder und wohnt in Reckenroth im Rhein-Lahn Kreis. Seit 2011 ist sie selbstständige Fotografin. Ihr erster Einsatz als Nothelferin war 2016 in Lesbos, seither arbeitet sie für verschiedene Hilfsorganisationen.

Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Frau Horst beantwortete diese schriftlich am 23. Mai 2022.

„Mein Traum ist es, Astronautin oder Astronomin zu werden …".

Zitiert Alea Horst, Autorin und Fotografin, die 14-jährige Elahe aus Afghanistan in ihrem berührenden Buch „Manchmal male ich ein Haus für uns - Europas vergessene Kinder", erschienen im Klett Kinderbuch Verlag.


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