Prof. Dr. Birger P. Priddat im Interview

Bedingungsloses Grundeinkommen:
Utopie oder mögliche Realität?

Während in Deutschland heftig um Berechtigung und Einführung der Grundrente gestritten wurde, erschienen im Suhrkamp Verlag 2019 Grundlagentexte zum „Bedingungslosen Grundeinkommen“. In einem großen historischen Bogen zeigt die Auswahl der Texte, wie die Idee über Jahrhunderte gewachsen ist. Doch liegt in diesem Konzept auch ein Ansatz für die heutige Zeit? Oder ist das bedingungslose Grundeinkommen nur eine schöne Utopie? Renate Müller De Paoli hat bei Mitherausgeber Professor Birger Priddat, Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke, nachgefragt.

Prof. Dr. Birger P. Priddat


Herr Professor Priddat, mitten im erbittert und hitzig geführten Diskussions- und Entscheidungsprozess um die Grundrente haben Sie zusammen mit Philipp Kovce im Suhrkamp Verlag den Titel „Bedingungsloses Grundeinkommen“ herausgegeben. War das Zufall oder Absicht?

Natürlich kein Zufall, aber, bitte nicht übersehen, es ist ein Buch zur Theorie- und Herkunftsgeschichte des Konzeptes des bedingungslosen Grundeinkommens. Als jemand, der in der Theoriegeschichte der Ökonomie bewandert ist, war ich, trotz meiner Skepsis, davon angetan, den großen geschichtlichen Bogen, den das Konzept bereits durchlaufen hat, einmal darzustellen.


Beeindruckende Texte haben Sie ausgewählt und zusammengestellt, beginnend im 16. Jahrhundert mit Thomas Morus’ „Utopia“ bis zu den Verfechtern des bedingungslosen Grundeinkommens des 21. Jahrhundert. Nach welchen Kriterien haben Sie ausgewählt? Was war Ihre Zielsetzung angesichts der Fülle an Literatur zu dem Thema?

Es ging nicht um Vollständigkeit, sondern um Entwicklungslinien.


Nun lehnen Sie selbst ein bedingungsloses Grundeinkommen ab, während Philip Kovce, Ihr Mitherausgeber, es befürwortet. Wie muss man sich da die Zusammenarbeit vorstellen, z. B. bei der Textauswahl?

Das war fast reibungslos. Wir waren uns einig, keinen Diskursband zu machen, in dem Pro- und Contra-Positionen aufgewogen werden, sondern nur solche Texte anzubieten, die die verschiedenen Quellen und Herkünfte des Grundeinkommengedankens aufzeigen. Das Meiste hat sowieso Herr Kovce aufgespürt, um, völlig angemessen, Belege für seine Befürwortung zu finden. Mir ging es darum, auf gehaltvolle Argumentationen und Theoriegerüste zu achten, d. h. z. B. Pamphletliteratur auszusortieren und immer wieder vorkommende Wiederholungen.


Wenn Sie über Ihren Schatten springen, welche Argumente sprechen für ein bedingungsloses Grundeinkommen? Immerhin existiert in Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre die Debatte, damals ausgelöst durch die Armutsstudie des damaligen rheinland-pfälzischen Sozialministers Heiner Geißler (6 Mio. Arme in der BRD!), wie Michael Opielka in „Das garantierte Einkommen – ein sozialstaatliches Paradoxon“ schreibt.*

In der Corona-Krise ist mir deutlicher geworden, dass das Grundeinkommen eine spezifische Berechtigung haben kann, und zwar als bedingungslose Zahlung von Lohn- und Einkommensersatz. Aber nur vorübergehend bedingungslos. Wenn man wieder in Lohn und Brot kommt, entfällt es. Das ist natürlich ein anderes Konzept als das bedingungslose Grundeinkommen, da es keine freie Wahl gibt, zu arbeiten oder nicht zu arbeiten. Doch es gibt noch eine andere Überlegung: wenn die Digitalisierung und die mit ihr laufende Automatisierung tatsächlich weniger Arbeitsplätze schafft, wird sich das Sozialsystem umstellen müssen, da es nicht mehr darauf ausgerichtet sein kann, dass die freigesetzten Menschen irgendwann wieder Arbeit fänden. Wenn man will: Hartz 4 wird permanent, und schon sind wir in einer Situation, die dem bedingungslosen Grundeinkommen nahekommt. Allein die freie Wahl, nicht arbeiten zu gehen und dafür dennoch alimentiert zu werden, halte ich für einen geschichtlichen Kulturbruch, auf den unsere Gesellschaft nicht vorbereitet ist. (dazu genauer das Kap. 5 in meinem Buch: Arbeit und Muße, 2019).
Bisher waren wir darauf eingestellt, Arbeitslosigkeit als Ausnahme anzusehen, die den Einkommensausfall finanziell kompensiert. Im Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens wird Arbeitslosigkeit von einer anderen, positiven Seite her betrachtet: als freiwillige Entscheidung darüber, wie man sein Leben verbringen will. Gleichsam als eine Form von Zeitsouveränität. Dabei übersehen wir aber, dass das Muster des Sozialstaates, die Zahlung des Einkommens qua Umverteilung, beibehalten ist. Die Finanzierung bleibt unklar. Über andere Finanzierungsarten nachzudenken wäre notwendig: z. B. über einen Staatsfond, der sich auf internationalen Kapitalmärkten das Geld beschafft, d. h. nach einer Anfangssubvention nicht mehr staats- und steuerabhängig sein würde.

Buchcover: Suhrkamp Verlag AG


Befürworter sprechen von einem „unveräußerlichen Grundrecht“, einem „unveräußerlichen Menschenrecht“, doch worum geht es dabei, um die Sicherung des Existenzminimums oder eines Kulturminimums? Und was bedeutet wirklich „bedingungslos“?**

Bedingungslos meint: ohne Voraussetzungen, sondern als freie Wahl zu arbeiten oder es sein zu lassen. Beide Male wird das Grundeinkommen ohne Nachfragen ausgezahlt. Ob das ein unveräußerliches Grundrecht sein kann, muss gegen andere Dinge erwogen werden, z. B. gegen die Wertschöpfung der Wirtschaft einer Gesellschaft, ob sie das leisten kann. Die außerordentlichen Finanzaufwendungen für ein solches Konzept werden, dafür steht auch wieder Corona als Beispiel, nur durch Verschuldung möglich werden. Ein vermeintliches Grundrecht auf (grundlose) Verschuldung auszurichten, scheint mir fragwürdig. Ich weiß, dass die Vertreter des bedingungslosen Grundeinkommens das so nicht gestaltet haben wollen; aber die Gewöhnung der Politik, gerade nach Corona, ans Schuldenmachen lässt vermuten, dass das in diesem Fall genauso geschehen würde.
Mein Kollege Carsten Herrmann-Pillath hat ein Gemeinschaftsgeld vorgeschlagen, ein parallel zum Euro emittiertes Wertpapier, d. h. das selbst nicht als Zahlungsmittel fungiert, aber 1:1 in Euro beim Staat umgetauscht werden kann. Etwa im Wert von 1.000 Euro mtl. Es sollte nicht unbedingt sofort ausgegeben werden, man kann es wie ein Vermögen ansparen, um im Notfall ausgegeben zu werden. Der Staat wird nur soweit in Euro belastet, wie jeweils akut umgetauscht wird (also in Krisenzeiten). Zur Not kann man davon auch ganz leben. Alle anderen sozialen Zahlungen entfallen. (genauer: Stefan Bannas / Carsten Herrmann-Pillath: Das Gemeinschaftsgeld, S. 24-26 in: Forum Nachhaltig Wirtschaften, Nr. 2 7 2020. Dort genauer die parallele Steuerreform und die Börsennotierung dieser Gemeinschaftsgeld-Wertpapiere). Wer sich im Nicht-Markt-Sektor freiwillig engagiert, kann anteilig das Gemeinschaftsgeld ausbezahlt bekommen. Auch bei Übernahmen von Hausarbeit und Kinderbetreuung. Das macht den Unterschied zum bedingungslosen Grundeinkommen: es ist ein Einkommen, das den Gemeinschaftsbereich stärkt und gesellschaftliche Solidarität institutionell verankert.


Gegner führen neben der Frage „Wie soll das finanziert werden?“ als Hauptargument ins Feld: „Wer wird dann überhaupt noch arbeiten?“. Doch müssen wir uns nicht ehrlicherweise fragen, warum wir eigentlich unterstellen, dass jeder Mensch vom Hang zur Faulheit und Nichtstun besessen ist, bis auf einen selbst natürlich, der vielleicht für ein paar Tage, Wochen oder Monate diesen Wunsch hegt und dann unter dem Druck des Nichtstuns leidet?

Das meine ich mit dem historisch neuen kulturellen Bruch. Wir wissen nicht, wie sich die Freiheit der Wahl des Tätigseins entwickeln wird. Es setzt ein hohes Maß an Energie und Eigenmotivation voraus, ohne Anreize tätig zu werden. Ich glaube nicht, dass es richtig wäre, Faulheit zu unterstellen, aber Antriebslosigkeit, schnelles Abbrechen, wenn es nicht gelingt, etwas selber zu machen. Und vor allem stellt man sich ja vor, dass die Leute individuell entscheiden, etwas mit sich selber anzufangen. Das Soziale, die Arbeit für die Gemeinschaft kommt nur sehr abstrakt, in ideellen Bezügen vor. Da liegt das kulturelle Risiko, keine gesellschaftlichen Formen und Institutionen zu haben, in die die frei werdende Energie eines Tätigseins hineinfließen kann.


Aber könnte in diesem Weg nicht sogar eine Antwort auf die großen Veränderungen und Herausforderungen in der Arbeitswelt, die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz mit sich bringen, liegen? Müssen wir Arbeit in diesem Kontext nicht anders definieren und bewusst andere, größere Freiräume für Fantasie, Kreativität und sozialem Miteinander schaffen?

Die Freisetzung der Kreativität ist längst in den kapitalistischen Produktionsprozess eingeflossen (dazu das Buch von Luc Boltanski/ Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus (édition discours), 2006). Die höherwertigen Tätigkeiten (high level workers) werden als relativ autonom angefordert, agil und selbstständig zu arbeiten. Der Trend zum home working setzt solche Arbeitsweisen voraus. Was durch das bedingungslose Grundeinkommen an Kreativität zusätzlich noch freigesetzt werden könnte, bleibt offen. Augenscheinlich viel private Selbstverwirklichung, aber was haben andere davon? Wenn schon keine Arbeit als Wertschöpfungsbeitrag, welcher Mehrwert nichtgeldlicher Art entsteht für die Gesellschaft? Die Vermutung, dass ein großes Potential an sozialer Tätigkeit entstünde, ist eine völlig offene Frage. Besonders dann, wenn die Entscheidung der Wahl der Arbeitsfreiheit wieder ganz individuell getroffen wird. Fördern wir nicht die Individualisierung der Gesellschaft? Sind wir dann nicht – obwohl ganz anderes gesonnen – gefangen in einer neoliberalen Freiheitsillusion?


Im Buch findet sich ein Beitrag von Erich Fromm aus den 1960er Jahren. Er spricht vom „homo consumens“, der versucht, gelockt von Industrie und Werbung durch maximalen Konsum seine „innere Leere“ in der Industriegesellschaft zu kompensieren. Heute scheint diese Entwicklung durch den Tourismus eine weitere Dimension gewonnen zu haben. Um dieser, auch von der Politik als inzwischen wichtige Wirtschaftszweige geförderten „Gier des „homo consumens“ und „homo tourismo“ zu begegnen, fordert er Investitionen in „Güter für den öffentlichen Verbrauch“, z. B. Krankenhäuser und Schulen oder die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Hat uns COVID-19 nicht gerade dramatisch gezeigt, dass Politik und Gesellschaft jetzt gegensteuern müssen?

So betrachtet: ja. Die Infrastrukturen der Gesellschaft, vor allem Gesundheitswesen und Bildung, sind relativ vernachlässigt. Und die Corona-Krise hat etliche Konsumenten nachdenklich werden lassen: Brauchen wir das alles, was wir kaufen? Reicht nicht auch weniger? Momentan ist die Konsumneigung gesunken. Ob es allerdings ein anhaltender Trend sein wird, bleibt offen. Aber ebenso offenbleibt, ob die Corona-Krise in 1–2 Jahren überwunden sein wird und wir so leben wie zuvor. Krisen lassen immer Spuren, und eines zeigt sich jetzt schon: der Staat wird stärker als zuvor ins Leben eingreifen.


Wäre dies nicht doch ein Ansatz, also Investitionen in „Güter für den öffentlichen Verbrauch“, den selbst die striktesten Gegner eines bedingungslosen Grundeinkommens im ersten Schritt mitgehen könnten?

Nein, denn die staatliche Gewährleistung von öffentlichen Gütern ist immer kollektiv konzipiert, nicht als freie individuelle Wahl. Im Grunde „schenken“ die steuerzahlenden Bürger (Zahlungskollektiv der öffentlichen Güter) denen, die keine Einkommen haben, und damit auch keine Steuern zahlen – und sich selber auch – (Nutzerkollektiv), Leistungen. Es ist eine Art von Umverteilung, durch den hoheitlichen Staat verfügt und durchgesetzt. Das aber ist etwas anderes als das bedingungslose Grundeinkommen: es betrifft Infrastrukturen wie Verkehr, Teile des Gesundheitswesens, Bildung, um deren Produktion sich das
Grundeinkommenskonzept wenig schert. Für das Leben allerdings muss man weiter selber aufkommen. Würde man das Konzept der öffentlichen Güter auf das bedingungslose Grundeinkommen erweitern, entstünde eine große Unsicherheit, wie groß das Zahlungskollektiv bliebe, d. h. wieweit die Finanzierung von Steuerumverteilung auf Staatsverschuldung umgesattelt werden müsste. Das Wohlfahrtskonzept – und das bedingungslose Grundeinkommen ist ein stark erweitertes Wohlfahrtsprogramm – würde in
zusätzliche Risiken geraten.


Herr Professor Priddat, gibt es erfolgreiche Ansätze und Modellversuche in Richtung dieser Grundidee, aus denen das so fragile und krisengeschüttelte Europa Erfahrungen für die Zukunft sammeln könnte?

Nein. Alle Modellversuche waren zu klein und zu kurzfristig angelegt, als dass man daraus Erfahrungen gewinnen konnte. Momentan erweist sich das bisherige deutsche Sozialkonzept als eines der erfolgreichen weltweit. Allerdings will das bedingungslose Grundeinkommen eine kulturelle Änderung: die freie Wahl der Arbeit. Das ist zum einen eine Ausweitung des vorherrschenden Individualismus – eigentlich eine Art von neoliberalem Eingriff in das Sozialkonzept –, zum anderen ist die Gesellschaft auf einen massiven Abbruch ihrer Tradition der Arbeitsethik nicht vorbereitet. Vorstellbar sind Zwischenlösungen (siehe die Antwort auf Frage* oder andere Konzepte: Frage**): eine Art Ausweitung des Kurzarbeitergeldes, das ohne Bedingungen in Notlagen gezahlt wird. Wenn die Notlage aber endet, das wäre die Abweichung, hört das Grundeinkommen auf. Dass wir den Sozialstaat neu denken sollten, ist nach Corona offensichtlich geworden. Aber wir vergessen zu schnell, dass nicht alles staatlich sein kann und darf. Wo bleiben die zivilgesellschaftlichen, sozialen Initiativen? (das Konzept von Herrman-Pillath (Antwort auf Frage**) weist auf eine eher zivilgesellschaftliche Kooperationstendenz).

Herr Professor Priddat wir danken Ihnen.

Vita: Prof. Dr. Birger P. Priddat


Seit 2017 Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie der Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/ Herdecke | Philosoph, Ökonom | In Hamburg studiert, von 1991 bis 2003 auf dem Lehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie. Zwischenzeitlich an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen (Mitgründer): 2003–2007. Seit 2009 bis 2016 wieder am Lehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie. Mehrere Gastprofessuren. Forschungsgebiete: Institutionenökonomie, Wirtschaftsphilosophie, Theoriegeschichte, Politische Ökonomie, digital economics.

Mail: birger.priddat@uni-wh.de


Kovce, Ph. / Priddat, B.P. (Hrsg.): Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte, Berlin: Suhrkamp 2019

Priddat, B.P.: Arbeit und Muße. Über die europäische Hoffnung der Verwandlung von Arbeit in höhere Tätigkeit, Marburg: Metropolis 2019

Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Herr Professor Priddat beantwortete diese schriftlich am 22. Juli 2020.

Prof. Dr. Birger P. Priddat im Interview

Bedingungsloses Grundeinkommen:
Utopie oder mögliche Realität?

Wir verwenden Cookies um unsere Website zu optimieren und Ihnen das bestmögliche Online-Erlebnis zu bieten. Mit dem Klick auf "Alle Erlauben" erklären Sie sich damit einverstanden. Erweiterte Einstellungen