Salomon-Finkelstein-Haus
„Wir haben die Botschaft verstanden: So etwas darf nie wieder passieren!“, schrieben Schülerinnen und Schüler der zehnten Klasse der Albert-Einstein-Schule (AES) in Laatzen in ihrem Dankesbrief an Salomon Finkelstein. In einer bewegenden Feierstunde am 19. Februar diesen Jahres im Forum der AES lasen sie beherzt vor rund 450 Schülerinnen, Schülern, Lehrerinnen, Lehrern und Gästen aus diesen Briefen. Die Schulgemeinschaft hatte entschieden, ein Nebengebäude der Schule, den bisherigen L-Trakt, in das Salomon-Finkelstein-Haus umzubenennen. In diesem Forum hatten sich Salomon Finkelstein und sein Freund Henry Korman als Zeitzeugen über Jahre immer wieder – solange ihre Kraft reichte – vor Hunderten von Schülerinnen und Schülern voller Vertrauen auf die junge Generation geöffnet und über die menschenverachtenden Entwürdigungen, Qualen und Verbrechen, die sie unter den Nationalsozialisten im Getto und in Auschwitz als junge Menschen über Jahre erleiden mussten, berichtet.
Auf Initiative von Schülerinnen und Schülern hatte die Albert-Einstein-Schule im Juni 2019 Salomon Finkelstein noch kurz vor seinem Tod durch die Verleihung eines Ehrenabiturs gewürdigt. Sie hatten verstanden, wie wichtig ihm dieses Abiturzeugnis, das ihm durch den Ausbruch des Krieges und die qualvollen Jahre im Getto und Konzentrationslager gestohlen wurde, Zeit seines Lebens war.
Mit der Umbenennung des Gebäudes in das Salomon-Finkelstein-Haus setzt die Schulgemeinschaft erneut ein wichtiges Zeichen und gibt ihrem „langjährigen Freund“ ein wichtiges Zuhause. „Die Schulgemeinschaft hat sich für Salomon Finkelstein entschieden,“, so Wilhelm Paetzmann, Geschichtslehrer an der AES, in seiner Widmung*, „einen Überlebenden des Holocausts, einen Zeitzeugen, den wir selbst von Angesicht zu Angesicht kennengelernt haben, zu dem wir eine Beziehung gepflegt haben, ja noch mehr, mit dem uns Freundschaft verband.
Namen haben aber darüber hinaus auch etwas Bewahrendes! Namen bewahren auch Werte und mahnen zum Innehalten in einer hektischen Welt. Die Albert-Einstein-Schule bewahrt sich so die Begegnungen mit Salomon Finkelstein, die Dankbarkeit ihm gegenüber, damit wir die Erinnerung überhaupt pflegen können.
Dadurch nehmen wir aber uns auch als Schule in die Pflicht, der Name Salomon Finkelstein wird an der Albert-Einstein-Schule haften bleiben, wir sind so kenntlich geworden – und noch mehr, wir als Schule bekennen uns zu ihm, zu seiner Botschaft.“
Widmung für Salomon Finkelstein anlässlich der Einweihung des Salomon-Finkelstein-Hauses am 19.02.2020
Sehr geehrte Anwesende,
wir haben uns heute versammelt, um dem Nebengebäude unserer Schule, dem L-Trakt, einen Namen zu geben. Wir wollen ihn in Zukunft Salomon-Finkelstein-Haus nennen, und damit den Freund unserer Schule ehren und dem Vergessen vorbeugen. Viele Schülergenerationen werden zukünftig darin ein- und ausgehen und so die Erinnerung und Dankbarkeit, die wir heute empfinden, bewahren.
Salomon Finkelstein hat sich nach langem Schweigen den jungen Menschen gegenüber aufgeschlossen und ihnen berichtet, was er in Auschwitz und den vielen anderen Lagern erlitten hat. Das war eine eindringliche Lektion, unvergesslich für alle, die es miterlebt haben – eine Lektion über unsere jüngere Geschichte und auch eine Lektion über das, was an Abgründen menschlichen Verhaltens möglich ist.
Wir als Albert-Einstein-Schule nehmen für uns in Anspruch, seine Lektion verstanden zu haben und wollen deshalb darauf mit dieser Widmung reagieren.
Wenn Namen erteilt werden, bei Kindern oder bei Gebäuden, dann steht an erster Stelle der Wunsch nach Unverwechselbarkeit. Namen bekommt man, sie stehen nicht in der eigenen Verfügbarkeit. Erst im Nachhinein wird erkannt, ob der Name stimmig war, ob er die Erwartungen erfüllte, die man ursprünglich gehegt hatte. In der Regel bedient man sich bei der Benennung von Gebäuden aus einem Prominenten-Pool. Man neigt zu bekannten Persönlichkeiten, die etwas Großartiges geleistet haben, von denen man annimmt, dass sie die Zeit überdauern werden. Bei uns ist das heute anders. Wir brauchen uns nicht rückwärtsgewandt an Menschen zu orientieren, die wir nicht gekannt haben oder die wir noch nicht einmal hätten kennenlernen können. Die Schulgemeinschaft hat sich für Salomon Finkelstein entschieden, einen Überlebenden des Holocausts, einen Zeitzeugen, den wir selbst von Angesicht zu Angesicht kennengelernt haben, zu dem wir eine Beziehung gepflegt haben, ja noch mehr, mit dem uns Freundschaft verband.
Namen haben aber darüber hinaus auch etwas Bewahrendes! Namen bewahren auch Werte und mahnen zum Innehalten in einer hektischen Welt. Die Albert-Einstein-Schule bewahrt sich so die Begegnungen mit Salomon Finkelstein, die Dankbarkeit ihm gegenüber, damit wir die Erinnerung überhaupt pflegen können.
Dadurch nehmen wir aber uns auch als Schule in die Pflicht, der Name Salomon Finkelstein wird an der Albert-Einstein-Schule haften bleiben, wir sind so kenntlich geworden – und noch mehr, wir als Schule bekennen uns zu ihm, zu seiner Botschaft, zu seiner Warmherzigkeit – und wir erkennen so zugleich die ungeheure Kraftanstrengung und seelische Stärke eines Menschen an, der uns bis zum Schluss die Treue gehalten hat, der uns die Hand gereicht hat – und das sehen wir heute mehr als nur eine Geste an, das fassen wir als ein Vermächtnis auf!
Salomon Finkelstein hat sich uns gegenüber geöffnet, und das ist mehr, als wir hätten erwarten dürfen, er hat uns Vertrauen entgegengebracht, und wir haben zunächst nur zugehört und innegehalten, als er uns das eigentlich Unsagbare und Ungeheuerliche mitgeteilt hat.
Über Auschwitz zu berichten, das geht über die Kräfte, das übersteigt die psychische Spannkraft eines Menschen, doch Salomon Finkelstein hat es für uns getan, und das ist das Allerschwerste, was man von einem Zeitzeugen erwarten kann. Und dadurch ist – so merkwürdig es klingen mag, eine Beziehung entstanden. Wir haben gespürt, dass hier ein Mensch über das Menschenmögliche hinaus geht, und wir haben ihm mit Gegenvertrauen geantwortet und ihn lieb gewonnen! Dass er zu uns in die Albert-Einstein-Schule gekommen ist, zu einem Haufen pubertierender 10.-Klässler, das rührt von seiner Herzensgröße her, das ist seine eigentliche Leistung, dass er sich uns zur Verfügung gestellt hat, damit wir lernen, damit wir unser Gemüt und unseren Charakter formen können, dass so etwas nicht wieder sein darf, denn – es ist ja tatsächlich geschehen!
Salomon Finkelstein hat sich nicht als großartigen Menschen gesehen, er sprach von sich als dem „kleinen Finkelstein“, der über sechs Jahre ein geschundener, leidender Mensch war, zu einer Nummer degradiert, der im Angesicht des Todes Sklavenarbeit leistete.
Da ist keine politische Tat, die er vorweisen könnte, kein dichterisches Werk, da ist einzig ein Mensch, der am Rande seiner Kräfte stand und der nach allem, was ihm angetan wurde, sich wieder zum Leben durchgerungen hat und der – trotz allem – an der Humanität festgehalten hat, so dass wir Nachgeborenen uns von ihm in die Pflicht genommen fühlen.
Salomon Finkelstein hätte allen Grund gehabt, zum Zyniker oder Pessimisten zu werden. Doch er hat bei sich nicht diesen letztlich selbstzerstörerischen Reflex zugelassen, mehr noch, er hat sich als Mensch selbst eingesetzt, indem er Jahr für Jahr die Erinnerung an das Leiden und die Unmenschlichkeiten hier in diesem Forum sich noch einmal abgerungen hat, es noch einmal durchlebt hat, um uns, um Euch eine Lebensorientierung zu geben. Und diese Art der Unmittelbarkeit und Glaubwürdigkeit, die kann man nicht aus Büchern lernen, so was kann man gar nicht lernen, so eine Begegnung kann man nur geschenkt bekommen. Und deshalb wollen wir als Albert-Einstein-Schule dies als Vermächtnis bewahren.
Unsere Schule will nicht nur eine Verwaltungseinheit sein, die nach einem Lernerfolg Abschlüsse erteilt, sie hat auch einen Anspruch, den Anspruch, Verbindliches und Gültiges zu sagen – ohne diesen Anspruch immer erfüllen zu können.
Lukas Bärfuss, der diesjährige Träger des Georg-Büchner-Preises, der höchsten Literaturauszeichnung, die unser Land zu vergeben hat, hat in seiner Dankesrede folgendes gesagt. Ich zitiere in Auszügen:
„Falls man dem Menschen die Möglichkeit geben will, aus der Geschichte zu lernen, wäre die erste Voraussetzung, dass er sich dieser Geschichte erinnert. Aber leider vergisst er leicht, und zu oft vergisst er die entscheidenden Lektionen (...). Denn jetzt, in diesen Tagen, verschwinden die letzten Zeugen. Irgendwann werden wir ohne (die Zeitzeugen) auskommen müssen. Sie waren nicht nur meine Lehrer, sie haben nicht nur mir die Richtung gezeigt, sie gaben jedem Demokraten, jenseits der politischen und weltanschaulichen Differenzen, die Orientierung. Wir werden ohne sie auskommen müssen, und die Unruhe, die Beliebigkeit und die innere Zerrüttung, die unsere Zeit bestimmen und die wir alle spüren, sie rührt auch daher. Es ist die Angst vor dem Vergessen, vom Verlust der Orientierung. Es bleibt die Aufgabe meiner Generation, die Erinnerung lebendig zu halten.“
In diesem Sinne wollen wir als Albert-Einstein-Schule das beherzigen und dem Vergessen entgegenwirken. Der Name Salomon Finkelstein soll deshalb an uns haften bleiben, wir wollen durch ihn kenntlich sein.
Wir brauchen in unserem weiteren Leben bei politischen und moralischen Anfechtungen keine Helden zu werden, es reicht, wenn wir an den „kleinen Finkelstein“ denken und uns so das vergegenwärtigen, was wir sind: Menschen! Lasst uns menschlich bleiben auch dann, wenn Humanität als Schwäche oder Dummheit ausgelegt wird. Das ist das, was Salomon Finkelstein uns letztlich als Botschaft aufgab und das reicht als Fundament fürs Leben.
Möge uns das Salomon-Finkelstein-Haus daran erinnern und sein eindringliches Plädoyer für die Menschlichkeit in unseren Herzen nachklingen.
Wilhelm Paetzmann, 19. Februar 2020
*Wir danken Herrn Paetzmann für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Widmung.