Verlieren wir den Kompass?

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Interview mit Gerhart Baum, Bundesminister a. D.

Krieg in Europa. Der Putin’sche Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt niemanden kalt. Und so wird auch der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum aufgrund seiner Lebenserfahrung von über 90 Jahren nicht müde, immer wieder aufzuzeigen, welche Brandmauer hier beginnt einzustürzen. Baums Mutter war Russin, geboren in Moskau, sein Großvater mütterlicherseits stammte aus Charkiw, in der jetzigen Ukraine. Er selbst bezeichnet sich gegenüber Convivio mundi als „Menschenrechtsaktivist“ und versucht im Gespräch die Bedeutung und Wirkung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wie auch der Vereinten Nationen – trotz eines notwendigen Reformprozesses – für eine Friedens- und Freiheitsordnung aufzuzeigen.

Gerhart Baum
Gerhart Baum (© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Herr Baum, für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, eine Herzensangelegenheit für die Mitglieder von Convivio mundi e.V., jährt sich im Dezember der 75te Jahrestag seit der Verkündung der Resolution durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Für Sie Grund zum Feiern? Wie sehen Sie die Entwicklung in diesen 75 Jahren?

Es gibt jeden Grund zum Feiern. Diese Erklärung ist Ausdruck der Besinnung nach den schrecklichen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie hat die Menschenrechtspolitik bis heute geprägt: das Völkerrecht, angefangen von der Charta der Vereinten Nationen bis hin zu den verschiedenen Pakten und Konventionen, und auch viele Nachkriegsverfassungen wie das deutsche Grundgesetz. Wenn Hoteliers etwas an die Betten ihrer Gäste legen, dann sollte auch diese Erklärung dazugehören. In meinem Buch „Menschenrechte“ habe ich sie abgedruckt. Sie hat Brücken gebaut zwischen den unterschiedlichen Kulturen dieser Welt. – Jetzt gerät sie ins Wanken. Aber die Abstimmungen in der Generalversammlung haben deutlich gemacht: Putin ist isoliert. Die große Mehrheit der Völker ist an einer werteorientierten, auf Regeln basierenden Weltordnung nach wie vor interessiert. Sie ist von Putin-Russland jetzt frontal angegriffen worden – ein Staat mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat und Vetorecht, also mit besonderer Verantwortung. Er bedroht jetzt alle, die sich auf dieses Völkerrecht berufen.


Allerdings sind immer mehr Menschen angesichts des Krieges in Europa wie auch in fast allen anderen Kontinenten dieser Welt der Meinung, dass die Erklärung am 10. Dezember 1948, also drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Tinte auf dem Papier nicht wert war. Was halten Sie diesen Menschen, die an der jetzigen globalen Entwicklung verzweifeln, entgegen?

Diese Einschätzung zeugt von einer völligen Verkennung der Wirkung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.


Stéphane Hessel, einer der damaligen Akteure und Begleiter des Prozesses, hat 2010 im Alter von 93 Jahren die weltweit vielbeachtete Kampfschrift „Empört Euch“ herausgebracht. Im Oktober letzten Jahres, zehn Tage vor Ihrem 90ten Geburtstag ist Ihr Buch „Menschenrechte – ein Appell“ erschienen. Was hat Sie bewegt, das Thema Menschenrechte ins Zentrum zu rücken?

Mit Hessel habe ich in verschiedenen Gremien der UN einvernehmlich zusammengearbeitet – er vertrat Frankreich und ich Deutschland. Ich bin seit Jahren auf dem Felde der Menschenrechte tätig – sozusagen ein Menschenrechtsaktivist. Für die Deutsche Regierung in Gremien der UNO, aber auch für die UNO selbst in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern vor allem in Verbindung mit der liberalen Friedrich Naumann Stiftung. Meine Bücher sind ins Russische, Ukrainische, Georgische und gerade ins Türkische übersetzt worden, und ich stelle sie in Vortragsreisen vor. In Russland allerdings sind sie verboten, meine Auftritte werden untersagt. Mit der Gerhart und Renate Baum Stiftung verleihen wir Menschenrechtspreise, jeweils in Höhe von 10.000 Euro. An die afrikanische Gruppe „Women for Peace“, an die zu zehn Jahren Haft verurteilte belorussische Freiheitskämpferin Maria Kelesnikwa, und zuletzt an die Ukrainerin Katja Petrowskaja.


Sie haben u.a. in den 1990iger Jahren sechs Jahre die Leitung der deutschen Delegation bei der UN-Menschenrechtskommission innegehabt und von 2001 bis 2003 waren Sie als UNO-Beauftragter für Menschenrechte im Sudan tätig. Welche Erfahrungen haben Sie bei den Vereinten Nationen sammeln und auch weitergeben können?

Ich habe Deutschland auch bei der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 vertreten. Mein Motiv: ich habe die Nazidiktatur und ihre Nachwirkungen erlebt. Ich erlebe heute Freiheit und möchte mich denen zuwenden, die ihre Freiheit nicht haben, obwohl sie, wie wir alle, frei geboren sind.

(© Mabit1/Wikipedia)

Für viele sind die Vereinten Nationen inzwischen nichts anderes als ein Papiertiger, der die Krisen dieser Welt mit schönen Appellen begleitet und mit oft hilflosen Blauhelmen zu entschärfen versucht. Jedoch durch die Veto-Möglichkeit der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat immer wieder in die Schranken verwiesen wird.

Natürlich gibt es das ärgerliche Veto, das mit Hilfe Chinas eine Verurteilung Putins verhindert. Aber in der Generalversammlung gab es überzeugende Voten gegen Putins Krieg – nur sechs Staaten haben ihn verteidigt. Und noch etwas: Die UNO ist mitnichten ein Papiertiger. Nahezu alle Friedensmissionen sehen auch einen Einsatz mit Waffen vor nach der UNO-Vereinbarung „Responsibility to protect“. Frieden schaffen auch mit Waffen. Maßgeblich war ich am Zustandekommen der Deklaration zum Schutze der Menschenrechtsverteidiger beteiligt, angenommen von der Generalversammlung im Jahre 1998. Weltweit werden diese mutigen Menschen unter den Schutz des Völkerrechts gestellt – eine wichtige Berufungsgrundlage, auch wenn immer wieder gegen sie verstoßen wird.


Sie fordern inzwischen eine Reform der Vereinten Nationen. Welche Veränderungen sehen Sie als unabdingbar an, um eine bessere Handlungsfähigkeit zu gewährleisten?

Die Zusammensetzung des Sicherheitsrates gibt die Situation nach dem Kriege wieder. Ganze Kontinente haben keinen ständigen Sitz, bisher sind alle Versuche, dies zu ändern, gescheitert. Auch sollte nicht mehr zugelassen werden, dass ein Staat sich durch Veto selbst schützt.


Aber wie kann eine solche Reform, so wünschenswert sie ist, durchgesetzt werden?

Indem Europa sich mit dem globalen Süden auf den Weg macht. Diese Staaten nehmen jetzt selbstbewusst ihre Interessen wahr. Ihr Gewicht in der Weltpolitik ist gewachsen.


Wie wollen Sie erreichen, dass China, Russland, die USA, aber auch Frankreich und Großbritannien, also die ständigen und nach der UN-Charta mit Veto-Recht ausgestatteten Mitglieder des Sicherheitsrates ihren Machtspielraum aufgeben?

Durch Überzeugungskraft und Druck. Durch den Überfall auf die Ukraine ist die Welt aus den Fugen geraten, da wird vieles möglich neben den beiden Weltmächten, den USA und China.


Welche Rolle könnte und müsste Europa dabei spielen?

Europa muss Partner des „globalen Südens“ werden, also z.B. von Indien, Indonesien, Malaysia, Brasilien, Südafrika usw. Europa muss auf diese Staaten zugehen und Vertrauen bilden. Und dann gemeinsame Strategien entwickeln.


Herr Baum, wir danken Ihnen.

Vita: Gerhart Baum


Gerhart Baum, 1932 geboren, war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. Seit Jahrzehnten zählt er zu den engagiertesten Verteidigern des Rechtsstaates. Er ist Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und Mitorganisator des jährlich vergebenen Dresden-Preises für internationalen Frieden. Für sein Engagement für internationale Verständigung und Versöhnung wurde Gerhart Baum 2021 mit dem Marion-Dönhoff-Preis ausgezeichnet.


Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Herr Baum beantwortete diese schriftlich am 28. Februar 2023.

Verlieren wir den Kompass?

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Interview mit Gerhart Baum, Bundesminister a. D.

(Hintergrundfoto Linkbanner: www.politische-bildung.de / © Alexander Johmann, flickr.com, CC BY-SA 2.0)

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