Yallah Deutschland, wir müssen reden!

Interview mit Souad Lamroubal

Yallah Deutschland, wir müssen reden! - So der Titel des Buches von Souad Lamroubal, erschienen im Dietz Verlag. Es ist eine herausfordernde Einladung zum Gespräch mit „ihrem“ Deutschland, das in den 1970er Jahren ihren Vater in Marokko als Arbeitskraft für Deutschland anwarb. Souad Lamroubal, geboren und aufgewachsen in Deutschland, studiert Public Management und entscheidet sich für die Verwaltungslaufbahn. Heute arbeitet sie als Integrationsbeamtin in einer Ausländerbehörde. Sie kennt also beide Seiten seit ihrer Kindheit bestens: die Lage der Ankommenden und die Forderungen deutscher Behörden. Wer könnte also besser ungeklärte Widersprüche im Umgang miteinander aufdecken und die Frage beantworten, wann Integration wirklich gelungen ist.

Buchcover
Buchcover (Quelle: Dietz Verlag)

Frau Lamroubal, Sie arbeiten als Integrationsbeamtin in einer Ausländerbehörde in Nordrhein-Westfalen, von vielen oft als Rausländerbehörde bezeichnet; auch Sie stellen in Ihrem Buch manchmal ein „R“ in Klammer voran. Wie kam es zu dieser Entscheidung, Beamtin gerade in diesem Gebiet zu werden, zu diesem Berufswunsch, oder ist Wunsch übertrieben?

Ja, auch ich nenne dieses Amt in meinem Buch tatsächlich die Rausländerbehörde. Das tue ich, weil ich weiß, dass dieser Begriff das Bild vieler Menschen über eine Kommunale Ausländerbehörde widerspiegelt und sicher nicht völlig unbegründet. Viele Menschen fühlen sich während ihrer Vorsprachen innerhalb der Ausländerbehörde nicht respektvoll behandelt, sondern eher als Menschen zweiter Klasse. Sie spüren enormen Druck, der auf sie ausgeübt wird und haben das Gefühl immer wieder unter Beweis stellen zu müssen, dass sie es doch verdienen, hier in Deutschland bleiben zu dürfen. Die Vorsprachen sind mit Ängsten verbunden und oftmals fühlen sich Betroffene den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern hilflos ausgeliefert. Ich habe diese Ängste unzählige Male beobachtet. In meiner Funktion als Sachbearbeiterin aber auch als Kind. Hier habe ich oft meinen Vater in die Behörde begleiten müssen. Mein Vater war immer sehr angespannt vor diesen Terminen und ich als Kind natürlich auch. Im Amt angekommen, konnte ich diese Aufregung nachvollziehen, denn der Umgang mit ihm war sicherlich nicht auf Augenhöhe, sondern es herrschte ein sehr harter Ton, auch abwertende Äußerungen waren keine Seltenheit. Als Kind konnte ich nicht mehr tun, außer zu übersetzen. Es war daher klar, dass ich mehr machen möchte, wenn ich „groß“ bin. Es war ein Wunsch, natürlich, aber mehr ein Wunsch danach, Menschen aus der Hilflosigkeit zu helfen und eine Willkommenskultur mit einzuführen. Das war und ist natürlich utopisch und ein Prozess, der sehr viel Zeit benötigt. Man kämpft hier natürlich auch gegen gewisse Widerstände, weil man auch versucht, die Haltung einiger zu verändern und ein Empathievermögen zu „aktivieren“, indem man immer wieder versucht, die Not der Menschen sichtbar zu machen und zu verdeutlichen, dass es sich um MENSCHEN handelt, gleichwertige Menschen und nicht Menschen zweiter Klasse (sofern es diese überhaupt gibt).


Ihr Vater, als Arbeitskraft in den 1970er Jahren in Marokko angeworben, ist zunächst allein als „Gastarbeiter“ nach Deutschland aufgebrochen, hat als Kesselreiniger gearbeitet und dann seine Familie nachgeholt. Sie selbst sind Anfang der 80er Jahre in Deutschland auf die Welt gekommen. Irgendwann fiel dann bei den Eltern die Entscheidung in Deutschland zu bleiben. Haben Sie als Kind irgendetwas von diesem Entscheidungsprozess mitbekommen? Wie erlebt man diesen Konflikt, dieses Hin- und Hergeworfen-Sein der Eltern?

Ich denke nicht, dass es irgendwann den Punkt gegeben hat, an dem meine Eltern bewusst die Entscheidung getroffen haben, hier in Deutschland zu bleiben, sondern es war eher ein „schleichender Prozess“. Wir Kinder hatten hier unser soziales Umfeld, haben die Schule besucht und haben uns natürlich über die Jahre immer mehr von Marokko distanziert. Sicherlich nicht bewusst, sondern einfach aus dem Grund, dass wir hier inzwischen zu Hause waren und ich durch meine Geburt in Deutschland ohnehin. Unsere Eltern wollten für uns immer das Beste und waren der Überzeugung, dass Deutschland gute Perspektiven für uns Kinder bietet. Unsere Eltern haben viel aufgegeben, um eine bessere Zukunft für uns zu schaffen und auch für Deutschland haben sie viel aufgegeben, um hier durch ihre Arbeitskraft zu unterstützen. Ich vermisse oft die Wertschätzung genau dafür. Die eigene Heimat und Familie zu verlassen und in ein „fremdes“ Land zu gehen, ist ein Kampf und mit viel Sehnsucht und Trauer verbunden. Leider wird das oft vergessen. Den Konflikt habe ich als Kind wahrgenommen. Meine Mutter hat immer schrecklich bei der Verabschiedung ihrer Eltern in Marokko geweint. Diese Momente sind noch sehr präsent, weil es so herzzerreißend war. Und auch hier in Deutschland waren sie nicht wirklich willkommen und hatten keinerlei Strukturen, die sie im Alltag unterstützen.

Ihre Mutter war Ihr großes Vorbild, sozusagen der Anker für die Kinder, obwohl immer voller Heimweh nach Marokko, wie Sie schreiben. Wodurch hat Sie Ihnen Sicherheit gegeben?

Meine Mutter war und ist immer noch mein großes Vorbild, weil sie eine Kämpferin war. Ihre Fürsorge und ihre Geduld waren einzigartig. Vieles hat sie mit Humor genommen, obwohl auch sie viel an schmerzvollem Alltagsrassismus erfahren hat. Über vieles hat sie hinweggesehen und einige Idioten einfach nicht ernst genommen. Davon könnte ich mir sicher eine Scheibe abschneiden. Sie hat mich immer motiviert, mich weiterzubilden. Ihr Wunsch war es, dass ich Rechtsanwältin werde. Viele meinen immer, dass gerade Mütter aus dieser Generation uns Mädchen ausschließlich beibringen, zu kochen und vermitteln, so schnell wie möglich zu heiraten, unzählige Kinder auf die Welt zu bringen und nichts für unsere Bildung und Selbstständigkeit zu tun. Das ist so ein klischeehaftes Denken.


In den Sommerferien ging es dann mit der Familie nach Marokko zu den dagebliebenen Verwandten. Wie war das für Sie?

Diese Urlaube waren immer mit viel Vorfreude verbunden und ich wusste, wie sehr meine Eltern sich freuten. Ich habe dort vor Ort immer viel Liebe erfahren, vor allem von meinen Großmüttern. Meine Mutter war oft glücklich und hat die Zeit bei ihrer Familie sehr genossen, das war sehr schön anzusehen. Natürlich bin ich in Marokko oft in das ein oder andere Fettnäpfchen getreten, weil ich nicht mit allen kulturellen Gegebenheiten vertraut war, und meine „sprachlichen Probleme“ brachten meine Eltern sicherlich auch mal in die ein oder andere peinliche Situation. Oftmals mussten sie sich die Kritik anhören, dass sie mehr mit uns auf Tamazight sprechen sollen, damit wir die Sprache nicht verlernen und die Heimat der Eltern nicht vergessen. Als wäre das immer so einfach. Unsere Eltern mussten vor Ort oft das für uns tun, was wir in Deutschland für sie tun mussten: übersetzen. Wir haben uns also immer gegenseitig in „Integrationsproblemen“ unterstützt, mal in Marokko und mal in Deutschland. Als Kind wurde ich oft gefragt, wo es schöner sei, in Marokko oder in Deutschland und wo ich lieber leben möchte. Hier wurde man bereits als Kind in einen Konflikt gebracht. Natürlich habe ich: Marokko geantwortet. Egal, wie sehr ich diese Zeit genossen habe, habe ich mich immer gefreut, zurück nach Deutschland zu kommen. Hier hatte ich meine Freunde und fühlte mich insgesamt zu Hause.


In Ihrem Buch verwenden Sie über sich die Bezeichnung „problematisches Gastarbeiterkind“. Woran machen Sie das fest? Und vor allem können Sie Gründe für ein solches „Ausrasten“ aus der gewünschten Normalität im Rückblick benennen?

Der Begriff „problematisches Gastarbeiterkind“ beschreibt keinesfalls meine Meinung. Ich würde mich weder als problematisches Kind noch als Gastarbeiterkind bezeichnen. Beides enthält ja nun mal eine Abwertung. Vielmehr habe ich den Begriff gewählt, weil dieser beschreibt, wie ich oftmals von außen wahrgenommen wurde. Ich selbst finde es nicht schlimm, wenn Kinder rebellisch sind, ihre eigene Meinung haben und sich nicht unterbuttern lassen. So war ich als Kind und bin es heute immer noch. Auch bei meinen Kindern, sehe ich es lieber, wenn sie gegen Widerstände ankämpfen, als wenn sie ihren Schmerz und ihren Frust runterschlucken, vor allem in der Schule. Wahrscheinlich wirkte ich auch für Lehrerinnen und Lehrer problematisch, da ich aus einem sehr bescheidenen Elternhaus komme und es mir oft an einfachen Dingen fehlte, beispielsweise Schulmaterialien. Trotzdem hat mich das nicht daran gehindert, Ungerechtigkeiten nicht widerstandslos hinzunehmen und/oder Dinge lautstark zu hinterfragen. Neben anderen assimilierten Kindern, die oft aus einem reichen Akademikerhaushalt kamen, kann das problematisch wirken. Meiner Meinung nach ist das einzige „Problematische“, mit welch´ defizitärer Perspektive Kinder wie ich betrachtet wurden und oftmals einfach pauschalisiert wurde. Auch wenn meine Schulzeit nun einige Jahre zurück liegt, lebt dieses Problem in vielen Schulen immer noch.

Sie beschreiben auf vielfältige Weise den von Ihnen erlebten Alltagsrassismus in Deutschland, führen entlarvende, schreckliche Beispiele an. Sie halten uns „Bio-Deutschen“ ungeschminkt einen äußerst hilfreichen und notwendigen Spiegel vor. Mir drängte sich aber beim Lesen, da ich ein sehr neugieriger Mensch bin, z.B. bei der an Sie gerichteten Frage: „Wo kommst Du her?“ das Problem auf, was ist, wenn wirklich nur der Wunsch, Sie kennenzulernen, also normale menschliche Neugierde hinter der Frage steckt. Wo und wann wird die Grenze überschritten?

Ich glaube, dass bei vielen sicherlich reine Neugierde dahintersteckt. Die Absicht, mit der die Frage gestellt wird, ist nicht das alleinige Problem, sondern, dass die Frage eher gestellt wird, weil etwas „Fremdes“ wahrgenommen wurde. Es wird also nach der Herkunft gefragt, weil scheinbar klar zu sein scheint, dass die Herkunft keinesfalls Deutschland ist. In der Gesellschaft scheint noch nicht angekommen zu sein, wie Deutsche inzwischen aussehen. Deutsch sein und vor allem deutsch aussehen hat sich längst verändert. Angenommen und verinnerlicht haben viele das leider noch nicht.


„Ihrem“ Deutschland werfen Sie in der viel diskutierten Frage „Integration“ vor, letztendlich Augenwischerei zu betreiben, denn eigentlich sei „Assimilation“ das Ziel. Sie erwähnen u.a., dass in einem auf Verschriftlichung und genaue bürokratische Vorgaben bedachtem Land wie Deutschland bisher für den Akt „Integration“ keine klare Handlungsvorgabe von der Politik gegeben worden ist. Erklären Sie das bitte.

Die gesetzliche wie auch gesellschaftliche Aufforderung zur Integration ist sehr laut. Eigentlich hat man als „Nicht-Biodeutsche/r“ keine Wahl, sondern MUSS sich integrieren. Tut man dies nicht, hat man mit Sanktionen zu rechnen. Entweder man kriegt gesellschaftlichen oder gesetzlichen Druck. Sprachkurse und Integrationskurse sind in der Regel nichts, auf was man verzichten kann, ohne hierfür auch mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Auch merken wir hier in Deutschland, dass wir es am liebsten einheitlich hätten, deshalb auch die ewige Diskussion um eine Leitkultur. Eine Leitkultur lässt wenig Raum für „Andersartigkeit“ und Vielfalt. Das Thema ist sicherlich komplex und unübersichtlich. Es überfordert nicht nur diejenigen, die zur Integration aufgefordert werden, sondern auch „Deutschland“. Es ist nicht so, als gäbe es keine Ansätze, wie „Deutsche Integration“ gelingen kann. Hier spreche ich vom Deutsch lernen und Arbeiten beispielsweise. Diese Punkte scheinen für Deutschland auf der Prioritätenliste ganz weit oben zu stehen. Deutsch sprechen macht einiges einfacher, aber es muss nicht zwangsläufig zur Integration führen, dazu braucht es andere Dinge. Ich kenne viele Biodeutsche, die fließend Deutsch sprechen und alles andere als integriert sind, manche sind nicht einmal gesellschaftsfähig. Sprache ist nicht so machtvoll wie wir diese darstellen, es macht alles nur etwas einheitlicher und schafft eine vermeintliche Verbindung.
Wenn es also die Pflicht eines jeden Migranten, Flüchtlings, Zugewanderten – und was es da noch so für tolle Begrifflichkeiten gibt – ist, sich zu integrieren, ist es auch ein Recht dieser Personengruppe zu erfahren, wie dies genau definiert ist und wann die Integrationsreise beendet ist. Es kann nicht sein, dass Menschen ihr Leben lang damit beschäftigt werden. Einige könnten sagen, dass das Ende mit der deutschen Staatsbürgerschaft eintritt. Diejenigen die die Hürden der Einbürgerung kennen, wissen, dass auch dies oftmals ein Ziel ist, dass nur sehr schwer zu erreichen ist und kaum etwas mit einem Integrationserfolg zu tun hat. Unser Umgang mit Migration und vor allem die Definition von Integration ist verwirrend und ermüdend.


Ihr Vater hat sich mit über 70 Jahren schweren Herzens zur Einbürgerung entschlossen. Sie erwähnen in diesem Kontext, dass selbst nach Jahrzehnten vereinzelt Gastarbeiterinnen und -arbeiter immer noch lediglich einen befristeten Aufenthalt haben und in regelmäßigen Abständen die Erlaubnis erbitten, hier bleiben zu dürfen, „dabei gehören sie doch schon zu Deinem festen Inventar“ Deutschland, wie Sie schreiben. Wie ist das möglich?

Ich denke nicht, dass mein Vater sich ungern hat einbürgern lassen, sondern er es für unmöglich gehalten hat, dass dies in der Praxis tatsächlich funktioniert. So geht es sehr vielen Menschen, denn es fehlt an niederschwelligen Aufklärungs- und Informationsangeboten zum Thema Einbürgerung und dem Aufenthaltsrecht.
Dass viele Menschen auch noch nach vielen Jahren nur einen befristeten Aufenthalt haben, liegt im Gesetz und somit den Erteilungsvoraussetzungen für eine Niederlassungserlaubnis, also einem unbefristeten Aufenthaltsrecht. Beispielsweise spielt hier die Sicherung des Lebensunterhaltes eine entscheidende Rolle. Die Sicherung des Lebensunterhaltes meint hier allerdings, dass man keine öffentlichen Leistungen in Anspruch nimmt. Eine kleine Rente reicht da manchmal nicht aus, vor allem nicht, wenn man dann ergänzende Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss. Dieser Punkt stellt oftmals ein Hindernis dar. Wieso diese Menschen nur so eine kleine Rente haben und wie es zu ihrer Arbeitsunfähigkeit kam, spielt keine Rolle. Allerdings müsste hier eigentlich berücksichtigt werden, welche Art von Arbeit diese Menschen verrichten mussten, und zwar körperliche Arbeit unter sehr schwierigen Bedingungen. Viele mussten aufgrund von Betriebsunfällen frühzeitig in Rente gehen. Es geht ihnen also teilweise so schlecht, weil sie sich für Deutschland so aufgeopfert haben. Es ist nicht so, dass die Mehrzahl einen befristeten Aufenthalt hat, aber es gibt da noch einige. Hier wird einfach noch mal deutlich, dass das Aufenthaltsgesetz kaum Individualität berücksichtigt.


Bittere Pillen, die Sie als Integrationsbeamtin in ihrer Arbeit schlucken müssen, umso bewundernswerter Ihr großes Engagement! Wenn Sie freie Hand hätten, was würden Sie vorrangig verändern? Was wäre vor allem auch zügig, ohne großen bürokratischen Aufwand und große politische Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse sofort umsetzbar?

So eine bittere Pille ist das nicht, zumal ich meinen Job sehr gerne mache und umsonst mache ich das ja auch nicht, sondern ich erhalte monatliches Schmerzensgeld. Ich kritisiere Teile der Verwaltung auch nicht, weil sie mir gleichgültig sind, sondern weil es mir sehr wichtig ist, dass sie funktioniert. Ich möchte dass wir hier besser werden und träume von einer Verwaltung, die uns alle in unserer Vielfalt berücksichtigt und die flexibler wird. Die von Menschen nicht mit Angst betreten wird und in der einem auf Augenhöhe begegnet wird. Eine eigentlich bescheidene Forderung, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass jeder einzelne sich das doch für sich selbst wünscht, oder? Wir sind gleichwertig und deshalb auch gleichberechtigt. Würden wir uns nur öfter in die Situation der Betroffenen hineinversetzen, die regelmäßig die Ausländerbehörden besuchen müssen, wäre es uns nicht egal, dass diese Menschen teilweise stundenlang in Warteschlangen stehen, um danach doch wieder nach Hause geschickt zu werden oder Monate auf einen Termin zur Erteilung und Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis warten müssen. Teilweise sind sie deshalb über einen langen Zeitraum ohne einen gültigen Aufenthaltstitel, weil vor Ablauf keine Vorsprache mehr möglich ist. Diese Menschen zahlen einen hohen Preis. Sie verlieren ihren Job, können Ihre Familienangehörigen nicht nachziehen lassen oder müssen auf sonstige Geldleistungen verzichten, weil sie keinen gültigen Aufenthaltstitel vorweisen können. Den Preis zahlen sie, obwohl sie nichts falsch gemacht haben und diese Verzögerung nicht zu verschulden haben. Natürlich ist es nicht überall so, aber in einigen Behörden sehen wir eine sehr fragile Struktur, enorme Überlastung und Personalmangel.
Viele Mitarbeiter können sich nicht langfristig mit diesen Strukturen identifizieren und verlassen die Ausländerbehörde nach relativ kurzer Zeit und diejenigen, die bleiben, sind nicht immer eine Bereicherung, wenn es um Veränderungsprozesse geht. Eine Aufwertung dieses Arbeitsplatzes durch bessere Bezahlung wäre sicherlich ein Weg, um mehr Personal für diesen Bereich zu gewinnen.
Ich würde mir auch wünschen, dass wir dennoch genau hinsehen, wen wir einstellen, so vermisse ich in den Einstellungstests das Thema interkulturelle Kompetenz und rassismuskritische Ansätze. Wir testen oft auf Belastbarkeit, Leistungsfähigkeit und Allgemeinwissen, andere Schwerpunkte setzen wir kaum. Auch fehlen Weiterbildungen zum Thema Antirassismus und Antidiskriminierung in Ämtern, in denen nun mal ein sensibler Umgang mit Migration zwingend erforderlich ist (eigentlich ist es in allen Bereichen erforderlich). So hätte ich nichts gegen verpflichtende Weiterbildungen in Ausländerbehörden.


Frau Lamroubal, weltweit sind Millionen von Menschen inzwischen auf der Flucht, sie fliehen vor Krieg, Hunger und Verfolgung. Viele suchen in Europa Schutz, wo sie immer mehr zum Spielball im gefährlichen Gerangel um politische Macht werden und zum Erstarken nationalistischer Kräfte führen. De facto scheinen wir weiter entfernt von dem Ziel, dass Migration zur Normalität in Deutschland und Europa wird. Sind wir blind, können wir wie Belsazar die Zeichen an der Wand nicht mehr lesen?

Migration ist eigentlich längst Normalität, nur will man dies nicht als unsere Realität akzeptieren. Wir versuchen das Leid, welches durch unseren Umgang mit Migration verursacht wird, durch Schweigen unsichtbar zu machen, also reden wir einfach nicht über die Menschen, die wir zu Fremden gemacht haben.
Vielleicht sind wir sehr fixiert auf die Sicherung eigener Privilegien und vergessen, wieso es uns heute so gut geht. Rassismus ist leider noch sehr präsent. Wir machen tatsächlich den Unterschied, wer auf der Flucht ist, und entscheiden, wer schutzwürdig ist und wer nicht.


Frau Lamroubal, wir danken Ihnen.

Vita: Souad Lamroubal


Souad Lamroubal, geb. 1982 in Dormagen, ist seit 2006 Kommunalbeamtin für die Stadtverwaltung. Dozentin am Studieninstitut für öffentliche Verwaltung für die Fächer Interkulturelle Kompetenz, Soziale Kompetenzen und Kommunikation. Zertifizierte Interkulturelle Trainerin und Managerin für Interkulturelle Öffnungsprozesse. Studium Public Management. Vereinsvorsitzende und Initiatorin der Bonner Comedy Nacht – Humor öffnet Grenzen.


Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Frau Lamroubal beantwortete diese schriftlich am 5. November 2022.

Yallah Deutschland, wir müssen reden!

Interview mit Souad Lamroubal

Wir verwenden Cookies um unsere Website zu optimieren und Ihnen das bestmögliche Online-Erlebnis zu bieten. Mit dem Klick auf "Alle Erlauben" erklären Sie sich damit einverstanden. Erweiterte Einstellungen