COVID-19 und der Universalgelehrte Leibniz
COVID-19, ein winziges, unscheinbares, nicht einmal mit dem menschlichen Auge wahrnehmbares Virus, hat selbst die „Mächtigen der Welt“ das Fürchten gelehrt. COVID-19 kennt keine Grenzen, keine Kontinente, Länder, Regionen und keine Unterschiede zwischen Hautfarben, Kulturen und Religionen. Trotz seiner Unscheinbarkeit hat COVID-19 uns schonungslos gezeigt, wie verwundbar wir sind, aber vor allem auch, welche Fehler in den letzten Jahrzehnten aus Kosten-Nutzen-Denken und dem vermeintlich „hohen Gut“ der Gewinnmaximierung gemacht und toleriert worden sind.
Welche Gesundheitsversorgung wäre in der jetzigen Situation überhaupt möglich, wenn wir der Forderung, Bettenzahl und Krankenhauskapazitäten drastisch zu verringern, gefolgt wären (Bertelsmann-Studie 2019)? Die dramatischen Bilder aus Bergamo haben es uns vor Augen geführt. Italien, das erste Land in Europa, das vom Virus heimgesucht wurde, hatte in den 1990er Jahren die höchste Anzahl an Betten pro Einwohner in Europa; und jetzt erleben wir in Italien die Auswirkungen eines von EU und internationalen Finanzinstitutionen verordneten und erzwungenen Sparkurses.
Insofern versetzt uns das Virus vielleicht erneut in die Lage, die „Zeichen an der Wand“ zu verstehen und in zukünftigen Entscheidungsprozessen das Wesentliche nicht aus dem Blick zu verlieren: den Schutz und die Verteidigung der Würde des Menschen, die im Schutz seines Lebens ihren Anfang nimmt.
Erwähnenswert und hochaktuell ist in diesem Zusammenhang ein Vorschlag des großen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz aus dem Jahre 1680. Er entwickelte damals für die Obrigkeit den „Vorschlag zur Bildung einer Medizinalbehörde“, die zwar vom Haus Hannover abgelehnt wurde, aber als Vorläufer unserer heutigen Gesundheitsämter gesehen werden kann. Leibniz schrieb:
„Wolte demnach rathsam halten, daß ein eigen Collegium Sanitas von der hohen obrigkeit aufgerichtet würde“
– also eine Behörde oder Gesundheitsamt, das neben der Nahrungsmittelkontrolle, die Krankheits- und Seuchenbekämpfung vorantreiben und die Ursachen von Krankheiten und Todesfällen ermitteln sollte. D. h. hier sollte eine statistische Erfassung und Dokumentation geleistet werden,
„was in gesundheits-sachen, und damit verwandten dingen von Zeiten zu Zeiten passiret, (…)
Hieher gehöhren auch die wöchentlichen, monathlichen, jährlichen extracten der todtenRegister oder Bills of mortality, darauß zu sehen, wieviel menschen gebohren und gestorben, und welches das fürnehmste in was für Kranckheiten, dabey das alter und andere umbstände nicht zu vergeßen. Und kan hieraus gewißlich ein großes liecht genommen werden.“
So werden in Corona-Zeiten inzwischen die Gesundheitsämter personell aufgestockt, um Infektionsketten besser zu erfassen und blockieren zu können. Und um schnellstmöglich Impfstoffe und Therapien zu entwickeln, sind Beobachtung und Erkenntnisse von Ärzten über Krankheitsverläufe ebenso wichtig wie die der Pathologen über Todesursachen.
Leibniz erwähnt auch, welche Erfahrungen deutsche Fürsten über Quarantänemaßnahmen und Gesundheitspässe, sogenannte Feden, während der Pest in Italien gesammelt haben:
„Wegen der pest hat nun die erfahrung gelehret, was nächst Gott eine scharffe aufsicht vermöge, und pflegte eine gewisse Person* scherzweise zu sagen, dass unser teütschen fürsten reisen nach Italien sich numehr bezahlet hätten, nachdem sie alda die Feden* und quarantainen gelernet, dadurch mancher Mensch beym Leben erhalten worden, da man zuvor in Teütschland in diesem Punct eine große nachläßigkeit verspühren laßen, und die übelberichteten unterthanen noch leztens diese ihnen ungewohnte, obschohn zu ihrer wohlfahrt gerichtete anstalt ungern gelitten.“
Für Leibniz hat „nächst denen tugenden des gemüths“ die Obrigkeit vor allem „auf die gesundheit des Leibes ihrer Unterthanen zu sehen, (…), vornehmlich aber auf (…) alimenta, Morbos locales, Endemios und Epidemios ihre gedancken zu richten.“
Und so kommt der junge Leibniz, um dieses Ziel zu erreichen, 1680 in seinem „Vorschlag zur Bildung einer Medizinalbehörde“ zu dem entscheidenden Schluss, dass wir mehr Ärzte brauchen mit einer Begründung, die uns angesichts von COVID-19 zu denken geben sollte.
„Und zwar so bin ich zu förderst der Meinung, dass der juristen ins gemein zu viel, der Medicorum aber zu wenig seyn. (…) So ist ja ungleich leichter von einem proceß, als von einer Kranckheit wohl zu urtheilen, denn in den Acten kan man lesen, und solche anatomiren, der leib aber eines lebenden Menschen ist verschloßen, und zwischen einem todten cörper und lebenden leibe ist ein alzu großer unterschied. Überdieß so sind die leges justitiae weitläufftig beschrieben, die leges naturae aber sollen noch großen theils außgefunden werden. Daher ich mich offt über der Menschen blindheit verwundere, die sich ihre wahre wohlfart so wenig angelegen seyn laßen. Vornehme Leüte ja große potentaten selbst müßen täglich erfahren wie übel es hehrgehet, wenn sie oder die ihrigen, oder ihre guthe freünde kranck seyn, und wie viele durch nachläßigkeit und unwißenheit aufgeopfert werden, und dennoch wollen sie nicht ein weniges auf das jenige bey gesunden tagen wenden so sie in Kranckheit mit viel tausend vergeblich zu erkauffen trachten würden. (…) alleine es geht den menschen mit der gesundheit wie mit der seeligkeit, deren keines sie achten, bis sie von der spathen reüe übereilet werden.“
*Herzog Johann Friedrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg auf seiner Italienreise 1667
*Fede, d. i. Pass, „Gesundheitsbrief“ (von fides, ital. Fede)
Gottfried Wilhelm Leibniz, Vorschlag zur Bildung einer Medizinalbehörde, Politische Schriften, Vierte Reihe, Dritter Band (1677–1689), Akademie-Verlag Berlin, 1986, Seite 370ff.