Die Elementejäger
Als das Forscherduo Ida Tacke und Walter Noddack im Jahr 1925 die Entdeckung der Elemente mit den Ordnungszahlen 43 und 75 veröffentlichten, schlug ihnen eine Welle von Misstrauen und Spott entgegen, denn wie konnten es zwei junge Leute wagen zu finden, was die berühmtesten Chemiker jener Zeit seit Jahren vergeblich suchten! Es gelang den beiden dann 1928, sie waren inzwischen verheiratet, aus 660kg Molybdänglanz etwas mehr als 1 Gramm(!) des Elementes 75 zu gewinnen. Damit wurde der Name "Rhenium", den die beiden Forscher diesem Element schon 3 Jahre früher gegeben hatten, endgültig offiziell.
Es gelang ihnen wegen fehlender technischer Vorraussetzungen allerdings nicht, für das wesentlich seltenere Element 43 - vorgeschlagener Name "Masurium", den Nachweis ebenso beeindruckend zu erbringen. Wieder ergossen sich Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit über die beiden und man ging davon aus, das dieses Element in der Natur nicht vorkommt. Erst 10 Jahre später gelang es Segré, das Element 43 künstlich zu erzeugen und es erhielt den Namen Technetium. Die von den Noddacks beschriebenen Eigenschaften wurden dabei voll und ganz bestätigt.
Ida Noddack (geb. Tacke, 1896 - 1978) beschrieb ihre philosophische Haltung später so:
«Wenn man das Wissen, das durch Naturbeobachtung und Experimente gewonnen wurde, nach bestimmten Regeln ordnet, so kommt man zu gewissen Vorstellungen über das Wesen der Stoffe und ihre Umwandlungen. Solche Vorstellungen bezeichnet man als Hypothesen. Diese Hypothesen sind je nach Art des verarbeiteten Beobachtungsmaterials und je nach der Denkart Ihres Urhebers mehr oder weniger einfach... Da alle Hypothesen auf Grund eines beschränkten Beobachtungsmaterials aufgestellt werden und da das Beobachtungsmaterial dauernd wächst, kommt für die meisten Hypothesen früher oder später der Zeitpunkt, wo sie fallen müssen. Die Lebensdauer vieler Hypothesen beträgt nur wenige Jahre. Es gibt aber auch solche, die viele Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte überdauert haben.
Eine Hypothese kann fruchtbar oder unfruchtbar sein. Wenn sie mit Not und Mühe gerade den gegenwärtigen Stand des Wissens umfasst, sich aber nicht darüber hinaus anwenden lässt, so ist sie unfruchtbar und hat nur den Wert einer Gedächtnishilfe. Gestattet sie aber, über das Gebiet hinaus, für das sie aufgestellt wurde, noch unbekannte Erscheinungen vorauszusagen, so ist sie fruchtbar und für den Fortschritt der Chemie wertvoll. Fruchtbare Hypothesen, die sich in einem größeren Gebiet und längere Zeit hindurch bewährt haben, bezeichnet man als Theorien.
Selbstverständlich kann und darf das Wissen von der zeitlichen Begrenztheit der Hypothese und der Theorie den Chemiker nicht davon abhalten, nach dem Fall alter Hypothesen und Theorien wieder neue aufzustellen. Sie sind für die Ordnung und Fortentwicklung der Wissenschaft eine Notwendigkeit.
Bewährte Theorien, die besonders klar, einfach und umfassend sind, pflegt man als Gesetze zu bezeichnen... Bisweilen bezeichnet man aber auch Theorien als Gesetze, die noch keineswegs reif dazu sind. Aus der Gesamtheit der Theorien und der erkannten Gesetze formen wir unser naturwissenschaftliches Weltbild.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass der Chemiker wie andere Naturwissenschaftler zwar Theorien aufstellt und Gesetze ableitet, dass er aber keine Dogmen aufstellen will. Wenn dies zuweilen doch geschehen ist, so lag es an menschlicher Unvollkommenheit; man hat öfter versucht, eine liebgewordene Vorstellung so lange wie möglich zu halten, auch wenn das Schicksal in Form des widersprechenden Experiments immer stärker anpochte. Dieses dogmatische Festhalten an Hypothesen und Theorien hat die Entwicklung oft auf lange Zeit gehemmt und wird vom wahren Forscher abgelehnt.»
(Aus Entwicklung und Aufbau der chemischen Wissenschaft 1942)