Europa handelt schnell und steht zusammen ...
Erschüttert und besorgt über den Erosionsprozess und die Fliehkräfte in Europa, die nicht erst der Virus COVID-19 zutage förderte, fragte Convivio mundi Mitte April, also vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank, in Brüssel Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Parlaments, nach seiner Einschätzung, insbesondere welche Stützpfeiler das „Haus Europa“ erneut stabilisieren könnten und wie stark Deutschland als „Exportnation“ vom europäischen Einigungsprozess profitiere. Rainer Wieland antwortete:
Europa handelt schnell und steht zusammen
COVID-19 hat nicht nur unseren Kontinent weiterhin im Griff, sondern hält die ganze Welt in Atem. Die Europäische Union ist ohne Zweifel krisenerprobt. Doch nun steht sie vor der vielleicht größten Herausforderung ihrer Geschichte. Die EU-Hilfen reichen weit (vom Schutz der Bevölkerung, über die Unterstützung der Forschung bei der Suche nach einem geeigneten Impfstoff, bis hin zur Unterstützung der Unternehmen) und wären vor der Pandemie so nicht vorstellbar gewesen. In einer beachtlichen Geschwindigkeit wurden milliardenschwere Hilfsmittel mobilisiert, die nun von EU-Staaten abgerufen werden können. Einzige Bedingung: Die Gelder werden zur Bekämpfung der Folgen der Corona-Krise verwendet. Leider offenbart die Krise jedoch auch antieuropäische und europaskeptische Tendenzen in manchen Mitgliedstaaten, in denen einige Akteure wider besseren Wissens die Geschichte von der untätigen und unfähigen Union erzählen. Wer jetzt als Minister jedes außereuropäische Flugzeug – das, wie Zeitungen berichten, in Fällen einzelner Absenderländer auch noch mangelhaftes Material („Schrott“) transportiert – persönlich mit Medienbegleitung auf dem Rollfeld begrüßt, die massiven Hilfen Europas und europäischer Partnerländer aber schweigend am Schreibtisch quittiert, ist in einem Europa, das mehr denn je aufeinander zählen kann und muss, fehl am Platz. Leider sind symbolische Gesten in der Politik und der medialen Außenwirkung oft wichtiger als Fakten. Denn die Hilfslieferungen Chinas und Russlands sind bestenfalls ein Bruchteil im Vergleich zu den Hilfen der europäischen Nachbarländer!
Und wer die Angst vor dem Virus nutzt, um seine Macht weiter auszubauen und die Rechtstaatlichkeit abschafft, kann demokratischen Standards auf Dauer nicht genügen.
Trotzdem greift es zu kurz, die EU als in Ost, West oder Süd gespalten darzustellen. Die Realität der Differenzen ist oft viel weniger bedrohlich als die Bilder, mit denen unverantwortliche politische Akteure spielen – man denke nur an das Bild von Deutschland als „Zuchtherr“ Europas! Die Gräben werden tiefer, wenn solche Klischees geschürt werden, die einzelne Staaten gegeneinander ausspielen.
Solidarität kann und wird derzeit in enormem Maße gezeigt – übrigens auch ohne Eurobonds! Es ist nicht nur dogmatisch, sondern auch irreführend, einzig Eurobonds als Prüfstein europäischer Solidarität zu stilisieren. Stattdessen ist es wichtig – und es wird in der Europäischen Kommission und im Parlament mit Hochdruck daran gearbeitet – Lösungen zu präsentieren die konsensfähig sind und die sich nicht an den alten Konfliktlinien abarbeiten.
Ich bin der festen Überzeugung: Zur Bewältigung der Krise bedarf es mehr Europa und nicht weniger! Was nationale Alleingänge anrichten, kann man derzeit sehr gut an dem Beispiel USA betrachten. Ich hoffe und glaube, dass das Miteinander und die Unterstützung in Europa durch diese Krise wachsen werden.
Deutschland größter Nettozahler – nur ein Teil der Wahrheit
Auch wenn Deutschland in absoluten Zahlen gesehen der größte „Nettozahler“ in der Europäischen Union ist, ist dies nur ein Teil der Wahrheit. Nicht zu vergessen ist, dass Deutschland eines der größeren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist. Der einzige faire Vergleich ist der Vergleich pro Kopf. Hier zeigt sich ein anderes Bild: 2018 hat Dänemark am meisten pro Kopf in die Europäische Union einbezahlt. Österreich, Schweden und Niederlande zahlen ungefähr die gleiche Summe pro Kopf in den Haushalt der Europäischen Union wie Deutschland. Nicht zu vergessen ist bei dieser Debatte, dass besonders Deutschland vom Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Wettbewerbs- und Außenhandelspolitik als größte Volkswirtschaft in der Mitte Europas profitiert, da gerade die deutsche Exportindustrie europaweit integrierte Wertschöpfungsketten hat. Der Intra-EU-Export – also der Export innerhalb der EU – hatte 2017 einen Anteil von 64 % am Gesamtexport der 28 Mitgliedstaaten. Der Intra-EU-Import lag bei 63,8 %. Deutschland ist – bezogen auf den Warenwert – mit 750 Mrd. Euro der mit Abstand größte Exporteur innerhalb der EU.
Anmerkungen von Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Parlaments,
geschrieben am 14. Mai 2020