Prof. Dr. Gustav Horn im Interview

Europa: "Der Zerfallsprozess ist wirtschaftlich getrieben."

Europa! Doch wie steht es nun wirklich um den Kontinent? Trotz manch verbalem Bekenntnis zu Europa scheint ein Auseinanderbrechen immer wahrscheinlicher. Oder ist der Zerfallsprozess noch aufzuhalten?
Um Europa wieder zu gesamtwirtschaftlicher Stabilität zu führen, fordert Professor Gustav Horn, seit 2005 Wissenschaftlicher Direktor und Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), im Gespräch mit Renate Müller De Paoli u. a.: „Wir müssen unsinnige Regelungen wie den Fiskalpakt wieder abschaffen.“

Prof. Dr. Gustav Horn
Prof. Dr. Gustav Horn

Herr Professor Horn das „Modell Europa“ hat gezeigt, dass nach den unvorstellbarsten, schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit Hass überwunden werden konnte. Aus Feinden wurden in Europa Freunde und über Jahrzehnte nach Vernichtung und Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg herrscht in Europa Frieden. Doch nun ist dieses zerbrechliche Gut in Frage gestellt und Europa steht vor der größten Erosion? Wo sehen Sie die entscheidenden Hebel für diesen Zerfallsprozess?

Der Zerfallsprozess ist wirtschaftlich getrieben. Die Krise der Jahre 2009 und folgende hat den Währungsraum tief gespalten. Auf der einen Seite gab es jene Mitgliedsländer wie Deutschland, die sich rasch erholten und deren Regierungen infolge hoher Steuereinnahmen über ausreichende Mittel verfügen, um öffentliche Investitionen oder die soziale Absicherung hinreichend zu fördern. Auf der anderen Seite stehen die Krisenländer mit immer noch hoher Arbeitslosigkeit und ständigem Sparzwang, die sich zudem am Tropf und unter der Kuratel der reichen Staaten fühlen. Dies erzeugt Spannungen mit Sprengkraft für die Union.

Weltweit scheint das Aufblühen populistisch-nationalistischer Bewegungen und der Schrei nach dem „starken Mann oder Frau“ die Antwort auf Globalisierung und neoliberale Wirtschaftspolitik zu sein. An welchen Stellen müssten wir in Europa den Schalter in eine andere Richtung drehen, um den Menschen wieder Sicherheit zu geben, um die „geballte Faust aus der Tasche“ zu holen?

Viele Menschen empfinden vor dem Hintergrund von Globalisierung und Digitalisierung und der damit verbundenen Migration und gesellschaftlichem Wandel einen sozialen Kontrollverlust. Das erzeugt Angst und Unsicherheit. Die Politik kann bei klarer Zurückweisung aller nationalistischen und rassistischen Vorstellungen den Menschen Handlungsoptionen in dieser komplexen Welt aufzeigen. So können z.B. Handelsabkommen auch so ausgerichtet sein, dass sie Verbraucher- und Arbeitsstandards schützen anstatt sie einem anonymen Freihandelskonzept zu opfern.

Auch Deutschland schreckt ja nicht vor einem ausgeprägten Wirtschaftsnationalismus zurück. Trotzdem sehen sich die deutschen Bürger meistens in der Rolle des großen „Zahlmeisters“, profitieren doch aber als „Exportnation“ am meisten von dem europäischen Einigungsprozess. Wie kann so ein verdrehtes Bild entstehen?

Hier war das anfänglich insbesondere von der Kanzlerin in der Eurokrise vertretene Narrativ fatal. Sie suchte die Schuld am Ausbruch der Krise ausschließlich in den Krisenländern und bestritt jegliche Notwendigkeit der Unterstützung. Das war nicht haltbar. Denn auch Deutschland trug durch seine Lohnzurückhaltung eine Mitverantwortung. Die Krise war systemisch, denn sie beruhte auf einer weitverbreiteten Missachtung europäischer Stabilitätskriterien. Das hätte man erklären müssen. Jetzt sehen viele Menschen in Deutschland in der ohnehin sehr bescheidenen Unterstützung der Krisenländer Geldverschwendung. Diese Sichtweise wird von einigen Ökonomen, die von Anfang an immer gegen den Euro waren, noch beflügelt. Das ist der Nährboden des Nationalismus.

„Die deutsche Krankheit: Sparwut und Sozialabbau“ heißt der Titel eines Ihrer Bücher, veröffentlicht 2005. Was ist falsch am Sparen?

Es muss zur rechten Zeit erfolgen. In einer Krise seitens des Staates zu sparen wie es seinerzeit zum Zeitpunkt der Veröffentlichung meines Buches der Fall war, verschärft die Krise und macht viele Menschen arbeitslos. Dagegen habe ich mich gewandt.

Welche zentralen „Organe“ des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems sind von dieser Krankheit besonders angegriffen worden und bedroht?

Es geht hier vor allem um die Bundesregierung mit ihrer falsch konzipierten Schuldenbremse. Es geht aber auch um einige Bundesländer, die ihre Kommunen im Stich lassen.

In wieweit haben wir versucht – und waren auch erfolgreich –, diese Krankheit auf andere Länder zu übertragen?

Deutschland war maßgeblich daran beteiligt, diese Sparpolitik sowohl durch den Vertrag von Maastricht als insbesondere auch durch den während der Eurokrise implementierten Fiskalpakt, auf den gesamten Euroraum zu übertragen. Darunter leiden immer noch viele Menschen in Europa. Jetzt versucht die italienische Regierung auch um den Preis des Zerfalls des Euroraums diese Beschränkungen zu schleifen.

Wie kann Europa diesen Sturm überstehen ohne völlig zu zerschellen? Was schlagen Sie vor? Wie können wir in Europa zu gesamtwirtschaftlicher Stabilität finden? Wie jungen Menschen, die von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit bedroht sind, wieder Hoffnung auf eine Zukunft geben?

Wir müssen unsinnige Regelungen wie den Fiskalpakt wieder abschaffen. Wir müssen in allen Ländern eine Politik betreiben, die die europäische Stabilität wahrt. Davon haben alle etwas, insbesondere Deutschland als Exportnation.

Welche Impulse könnten und sollten von Deutschland jetzt ausgehen, um die Chance auf ein wirtschaftlich und sozial starkes, solidarisches und einiges Europa zu erhalten?

Im Moment wären dies vor allem temporär noch stärkere Lohnsteigerungen und eine expansive Finanzpolitik mit hohen öffentlichen Investitionen. Dies würde die immer noch schwärende Deflationsgefahr im Euroraum bannen .Zugleich würden unsere Importe steigen, was steigenden Wohlstand auch bei unseren Partnerländern in Europa ermöglichen und zugleich unsere Exporte dorthin beflügeln würde.


Herr Professor Horn wir danken Ihnen.


Vita: Prof. Dr. Gustav A. Horn


Gustav A. Horn wurde am 11. Oktober 1954 in Nümbrecht/Oberbergischer Kreis geboren. Er studierte bis 1979 Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn (Abschluss: Diplom Volkswirt) und bis 1981 an der London School of Economics (Abschluss: M.Sc.). Er promovierte und habilitierte an der TU Berlin. Nach einer Assistenzzeit von 1981-1986 an der Universität Konstanz arbeitete er von 1986 bis 2004 am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, wo er zuletzt als Abteilungsleiter Konjunktur tätig war. Im Jahr 2005 wurde er als Wissenschaftlicher Direktor an das neu gegründete Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans Böckler Stiftung berufen, das er seit her leitet. Im Jahr 2007 wurde er apl. Professor an der Universität Flensburg und im Jahre 2012 an der Universität Duisburg-Essen. Von 2010-2016 war er Vorsitzender der Kammer für Soziale Ordnung der EKD, seit 2016 ist er dort als Mitglied weiterhin tätig. Als Research Fellow ist er seit 2016 in der DG ECFIN der EU Kommission tätig.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Mittwoch, 14. November 2018


Europa: "Der Zerfallsprozess ist wirtschaftlich getrieben."

Prof. Dr. Gustav Horn im Interview

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