Wozu Wissenschaft ?
Im Rahmen eines Festakts zu Leibniz' 365. Geburtstag an der Universität Hannover hielt der Leibniz-Stiftungsprofessor Wenchao Li am 1. Juli im Kali-Chemie-Hörsaal der Universität einen Vortrag mit dem Titel „Wozu Wissenschaft?“
In seinen Grußworten, drückte der Präsident der Leibniz Universität Hannover Erich Barke seine Wertschätzung gegenüber den sichtbaren Früchten der Arbeit des Stiftungsprofessors aus. Nach einem Jahr, in dem Li die Professur innehat, sehe er deutlich die Schnittstelle der Universität mit der Stadt gefestigt und Li auf dem besten Weg, in Hannover einen internationalen Leibnizforschungsstandpunkt aufzubauen.
Der Präsident der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft Rolf Wernstedt sprach über geistige Nachkommen Leibniz', dessen geistiges Erbe heute und rief einige der Veranstaltungen der Leibniz-Stiftungsprofessur, die eng mit der G.-W.-L.-Gesellschaft zusammenarbeitet, in Erinnerung, u. a. die Tagungen 2010 zu den Themen Leibniz' in der Zeit des Nationalsozialismus und 300 Jahre Essais de Théodicée.
Wozu Wissenschaft? – Wissenschaft ist Gottesdienst, sie dient Gott und zugleich der Menschheit, der Förderung des allgemeinen Wohls. „Hat diese leibnizsche Beantwortung der Frage heute noch Bedeutung?“, fragt Li. Bei der Reflexion über die Frage gibt es für ihn einen konkreten Aufhänger: einen Schreibblock, den er als Mitarbeiter der Universität zum Begrüßungsgeschenk erhalten hatte und dessen Schriftzug: „Mit Wissen Zukunft gestalten“ ihn in philosophisches Grübeln versetzte und vor allem Fragen aufwarf:
„Gestalten“ hat mit der Schöpfungsfrage zu tun. „War Innovation nicht lange Zeit ein Synonym für Ketzerei?“ Gestalten bedeutet, dass der Mensch nicht mehr nur Imitator ist, sondern selbst als Schöpfer agiert. Auch der Begriff Zukunft' beschäftigt: Was ist die Zukunft? Wann beginnt sie? Blickt man auf sie in Minuten, Jahren, Jahrzehnten? Gibt es so etwas wie „Dein Reich komme“? fragt Li und stellt dem linearen Fortschrittsdenken ein zyklisches Modell gegenüber, in dem Zukunft' eine vollkommen andere Bedeutung erhält. Und handelt es sich beim Fortschritt wirklich um Fortschritt – oder um bloßes Fortschreiten in irgendeine Richtung…? „Um zu wissen, was Wissen ist“, erläuterte Li den vorletzten Begriff seiner Betrachtungen, „braucht man ein Wissenswissen, das ich mal als Metawissen bezeichne…“ Dass der Schriftzug auf dem Schreibblock, der sich in der Präsenttasche für den neuen Professor befand, einmal in seine Bestandteile zerlegt und philosophisch auseinander genommen werden würde, hat damals sicher niemand vermutet. Auch das kleine Wort mit' darf nicht vergessen werden, und schließlich: Was würde Leibniz wohl sagen, wenn er heute über den Campus ginge? Vielleicht würde er auf seine eigenen Überlegungen zur Studienorganisation und zur Eindämmung der Bücherflut verweisen. Große Bedeutung hat vor allem sein „theoria cum praxi“, das auf eine Synergie nicht nur zwischen Theorie und Praxis verweist, sondern auch einen offenen und optimistischen Zugang zu jeder Disziplin betont: keine Skepsis gegenüber der Wissenschaft als solcher oder gegenüber einzelnen Disziplinen.
Leibniz ging es um die Einheit der Wissenschaft, um Forschung über nationale Grenzen hinweg, um Wissenschaft im Dienste der ganzen Menschheit – und Wissenschaft als Gottesdienst. Dies müsse man nicht als Pathos einer vergangenen Zeit abtun.
Es bleiben Fragen: Kann es gelingen, die Wissenschaft in ihren Disziplinen zu vereinen? Kann der „bloßen Produktivkraft“ wirklicher Fortschritt entgegengestellt werden und kann sich aus bloßer Akkumulation von Wissen vernetztes Wissen, Wissenschaft im Dienste der Menschheit entwickeln?
Leibniz, so Li abschließend, würde besonders den Verlust des Gottesbezugs in der Wissenschaft und den damit einhergehenden Verlust des Wahrheitsbezugs bedauern. – Eine These, die bereits in der Diskussion am 24. Juni, nach dem Vortrag über Leibniz und Russland aufgegriffen wurde und die ihrerseits Raum für weitere Reflexionen, Vorträge und Diskussionen bietet.