Salomon Finkelstein

„Ich bin einer der Letzten - Fragen Sie mich!"

Unser Freund ist nun von uns gegangen.
Salomon Finkelstein, am 1. Juli 1922 in der polnischen Industriestadt Lodz geboren,
ist am 26. Juni, wenige Tage vor seinem 97. Geburtstag in Hannover gestorben.

Es war im Herbst 2009 als Birgit Brenner und ich Salomon Finkelstein zum ersten Mal persönlich kennenlernten. Wir hatten uns in der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover zu einem Gespräch verabredet. Da saß nun dieser von Statur kleine und von Kraft so große Mann mit seinen so ahnungsvollen, neugierigen und schelmisch-weisheitsvollen Augen, verblüffte und begeisterte uns, beide der Dichtung und Musik verschworen, denn inzwischen war unser Gespräch auf die Bedeutung der Dichtkunst gekommen, als er ausdrucksstark und tief berührend völlig unvermutet aus dem Stegreif das Gedicht „Der Wächter“ in jiddischer Sprache rezitierte. Sofort stimmte er damals unserem Vorschlag zu, auf unserer nächsten Veranstaltung von Convivio mundi Anfang Mai über sein Leben zu erzählen. Ihm gefiel auch der Plan, zunächst einige Auszüge aus Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacharach“ seinen Erinnerungen voranzustellen. „Ich bin einer der Letzten – Fragen Sie mich!“ schlug er als Thema vor.

Und wie immer, wenn Salomon Finkelstein sprach, hätte Jeder an diesem Abend im Lister Turm eine Stecknadel fallen gehört, als er mit seiner weichen und doch so bestimmten Stimme von den Gräueln und Verbrechen der Nazis berichtet, den Demütigungen und Erniedrigungen, der Gewalt und dem Hunger, den Erschießungen und der Angst „per Daumen ins Gas geschickt“ zu werden. Er war 17 Jahre alt, stand kurz vor dem Abitur, als die Nazis in Lodz einmarschierten und sein Leidensweg begann: Ghetto Lodz, Arbeitseinsatz für den Reichsautobahnbau im Raum Frankfurt/Oder, jahrelange Zwangsarbeit für die IG Auschwitz, im Januar 1945 dann der Todesmarsch nach Nordhausen ins Konzentrationslager Dora-Mittelbau und von dort der Todesmarsch nach Ravensbrück. Er spricht ohne Bitterkeit und Hass, nur der Schmerz steht im Raum. Eine Schülerin fragt betroffen und verzweifelt: „Aber gab es nicht auch schöne Momente?“ „Ja, ich war schon glücklich, wenn mir Jemand in Auschwitz ‚Guten Tag’ gesagt hat.“ Antwortet der Mann, der in Auschwitz wie ein Tier zur Häftling Nummer 142 340 erniedrigt wurde, ganz ruhig. „Aber wie haben Sie überleben können?“ fragt ein Schüler. Seine Antwort: „Vielleicht weil ich ein Träumer bin, zu träumen, leben zu wollen, über eine Blumenwiese zu gehen, einem Mädchen den Arm zu streicheln, sich satt zu essen, keinen Bewacher im Rücken zu haben.“

Salomon Finkelstein hat in den sechs Jahren des Weggeschlossen seins durch die Nationalsozialisten viele Abgründe menschlichen Handelns durchleben müssen. Bis zu seinem 17. Lebensjahr kannte er menschliches Fehlverhalten nur aus literarischen Beschreibungen in Geschichten, Märchen und Romanen, denn in der Familie Finkelstein wurde viel gelesen und gesungen. Begeistert erzählte er mir später, als ich an seiner Biografie arbeitete: „Als ich ganz klein war, hat meine Mama uns oft Märchen vorgelesen. Sie hat uns Kindern auch Gedichte vorgetragen und viel, viel gesungen. Später war das Lesen von Büchern unser schönster Zeitvertreib. Ich war schon mit neun Jahren Mitglied in der Bibliothek, die nur 400 oder 500 Meter von unserer Wohnung entfernt war. Ich kann mich erinnern, dass ich immer ein Buch bei mir hatte. Im Winter trug ich einen Mantel, in dem ich unter dem Revers ein Buch mitnehmen konnte. Und manchmal las ich zu Hause bis drei Uhr in der Nacht. Begeistert haben mich die Reisebeschreibungen von Jules Verne, diese Welt der Wunder, diese Meeresschätze und wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten, die er in seinem Roman ‚20.000 Meilen unter dem Meer’ beschreibt, und auch die ‚Reise um den Mond’. Später habe ich viel von Viktor Hugo gelesen, er zählt zu meinen Lieblingsautoren, aber auch Honore de Balzac und dann kamen russische Autoren Dostojewski, Tolstoi, auch Korolenko. Mit 15 habe ich, ‚Schuld und Sühne’ gelesen.“

Und so machte sich der „Träumer“ nach der Befreiung am Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem „richtigen Hunger auf Freundschaft, auf Wärme und auch auf Liebe“ auf den Weg und versuchte aus seinem „Koffer“, den er jahrelang nicht abstellen wollte, Menschen zu geben, was er von Anderen für sich erwartete. Eine Lebenslust und Lebensfreude, die ansteckend wirkte. Doch besonders in den Nächten holte ihn die qualvolle Vergangenheit immer wieder ein, denn er versuchte zu begreifen, wie dieser Wahn entstehen konnte, um den Anfängen noch besser wehren zu können. Denn „Das ging nur so allmählich mit Schikanen los, nicht auf einmal …“.

Er nutzt jede Gelegenheit, ob vor Schulklassen oder im Niedersächsischen Landtag, dieser Frage auf den Grund zu gehen und das Unfassbare zu begreifen. Als ihn der Niedersächsische Landtag am 26. Januar 2010 zum 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als Zeitzeugen einlädt, ist er zu diesem Zeitpunkt wegen akuter Herzprobleme im Krankenhaus und verlässt gegen den Willen der Ärzte auf eigenen Wunsch für die Zeit der Gedenkveranstaltung das Krankenhaus. Er sagt in seiner Rede:
„… ich bin innerlich zerrissen. Ich kann das nicht begreifen. Ich wurde in meiner Ausbildung unterbrochen und ich versuche, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich versuche vieles zu begreifen. Ich kann nicht begreifen, was damals passiert ist. Ich kann verstehen, was passiert, wenn man jemanden, der vor dem Krieg Schuhputzer oder Pförtner war, eine Uniform angezogen hat. Man gab ihm eine Waffe und sagte: „Hier hast Du eine Gruppe Menschen, hundert Menschen oder wie viel es sein mögen, mach mit Ihnen, was Du willst.“ Dann hat er sich gesagt: „Jetzt werde ich es ihnen zeigen. Jetzt bin ich der Herr und nicht ihr!“ – und dann danach gehandelt – je nach Charakter. Aber sehen Sie sich die Liste der SS an. Das liest sich wie ein Who is who: Akademiker, Professoren, Ärzte, auch der Mengele. (…) Und wer das nicht wusste – es ist ja kein Volk von Analphabeten – wer das nicht wusste, da gab es schon „Mein Kampf“, schon ein paar Jahre vorher. Ich frage immer: „Wie können solche Menschen zu Verbrechern werden? Kann man Menschen manipulieren? Kann man das? Ich kann mir das nicht vorstellen.“
Er endete seine Rede mit einem Zitat aus dem Buch Hiob: „Erde, deck mein Blut nicht zu, damit mein Schreien nie aufhört.“

Und so fragte er mich bei einem meiner Besuche nach der Lage im Nahen Osten und es brach aus diesem schon stark geschwächten Körper mit Tränen in den Augen verzweifelt heraus: „Aber es sterben doch die Kinder!“

Salomon Finkelstein kennen und erleben zu dürfen, war ein großes Geschenk, sei es im privaten Gespräch oder wenn er mit seinem Weggefährten Henry Korman zu unseren Veranstaltungen kam. Sein „Koffer“, gefüllt mit einem „richtigen Hunger auf Freundschaft, auf Wärme und auch auf Liebe“ wird immer vorne in der ersten Reihe stehen bleiben.

Salomon Finkelstein: Häftling Nummer 142 340
Salomon Finkelstein: Häftling Nummer 142 340 ISBN-13: 978-3865258014

Die frühen Jahre

Ausgesetzt
In einer Barke von Nacht
Trieb ich
Und trieb an ein Ufer.
An Wolken lehnte ich gegen den Regen.
An Sandhügel gegen den wütenden Wind.
Auf nichts war Verlaß.
Nur auf Wunder.
Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht,
Trank von dem Wasser das dürsten macht.
Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen,
Fror ich mich durch die finsteren Jahre.
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.

(Mascha Kaléko, geschrieben 1975 kurz vor ihrem Tod)

Salomon Finkelstein

Unser Freund ist nun von uns gegangen.

Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Freitag, 28. Juni 2019

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