„Ein Körnchen Wahrheit ..."
Eigentlich spricht man über ein „Körnchen Wahrheit“, wenn ein Gerücht unterwegs ist – von Ohr zur Ohr – oder eine Sache bekannt wird, der man nicht so ganz hundertprozentig glauben kann: Naja, denken die Leute, naja, ein Körnchen Wahrheit könnte vielleicht dran sein!
Gibt es das überhaupt? Ein Körnchen Wahrheit? Ist Wahrheit nicht absolut, unteilbar, immer ganz und vollständig? Kann es Wahrheit geben, wie Sandkörner an einem Strand?
Wahrheit und Wissenschaft – das war das Thema, das sich Convivio mundi e.V. mit seiner Textauswahl zur Verantwortung der Wissenschaft für seine Veranstaltung am 11. Februar 2020 gesetzt hatte.
Im Leibnizhaus der Leibniz-Universität-Hannover, recht malerisch in der hannoverschen Altstadt gelegen, kamen Interessierte zusammen, um Gedichte und Texte zu hören, die sich mit Verantwortung befassten – die Verantwortung der Wissenschaft für das, was sie erforscht bzw. als wahr erkennt.
Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb Ludwig von Beethoven, dessen 250. Geburtstag im Jahre 2020 gefeiert wird, die Musik zu Schillers Worten in seiner 9. Sinfonie: Da heißt es u. a., sagte Renate Müller De Paoli in ihrer Begrüßung: „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt“.
In Zeiten von Kriegen und Klimaveränderungen können Millionen Menschen, die von Hunger und Gewalt bedroht sind, in ihren Ländern nicht mehr sicher leben, so Renate Müller De Paoli weiter. Es stellt sich die Frage: Ist der Mensch, der glaubt, alle Bereiche des Lebens durch Wissenschaft kontrollieren zu können, ist der Fortschrittsglaube vergangener Jahrhunderte schuld, dass die Welt heute in einer solchen Verfassung ist? Als Beispiel für diese Möglichkeit zitierte Müller De Paoli den norwegischen Zukunftsforscher Jorgen Randers, Mitautor der Bücher des Club of Rome, der in den 70er Jahren vor der Überbevölkerung des Planeten Erde warnte. Randers beurteilte seine Tochter wegen ihres hohen Konsums als ein „gefährliches Tier“, gefährlich für die Zeitgenossen in armen Ländern, die nur über einen Bruchteil der Energiekonsumption/Tag verfügen.
Oder gibt es eine Chance, mit der Wissenschaft gemeinsam die Probleme anzupacken, technisch, sozial, politisch. Jenseits von Rassismus, Gewinnsucht und Machtgier! Und Müller De Paoli stellte die Frage: Hat die Gesellschaft den Kompass verloren, nach dem wir uns in unserem Handeln richten? Was können, was müssen wir tun, damit wir fröhlich wie Beethoven sagen können: „Seid umschlungen, Millionen!“
Ob die Auswahl der Texte Antworten auf diese schwierigen Fragen geben könnten? Das Publikum war gespannt. Von Nikolaus von Kues über Leonardo da Vinci zu Alexander von Humboldt und Werner Heisenberg spannte sich der Bogen der wissenschaftlichen Ideen über die Wahrheitsfindung. Gewürzt waren die Texte mit vielgestaltigen poetischen Bildern über die Frage, was die Menschen wohl an der Lösung dieser Fragen hindern und was sie befördern könnte – mit Gedichten von Goethe, Schiller, Geibel, Chamisso aus Klassik und romantischer Zeit sowie Mascha Kaléko, Rose Ausländer und Paul Celan als Zeitgenossen und Opfer des Holocaust.
Der Auszug aus einem Gespräch zwischen einem ungelehrten Laien und einem berühmten Redner (Der Laie über die Weisheit von Kues) zeigt, wie wichtig es ist, zu prüfen, was man glauben soll, wenn man die Weisheit sucht. Nicht wie das Pferd, das zwar frei geboren, aber an einer Krippe festgebunden ist und nur das fressen kann, was dort zu finden ist. Nicht in den Büchern steckt der Grund der Weisheit, sondern im Wesen des Menschen und der Natur, „den Büchern Gottes, die er mit seinem Finger geschrieben hat.“
Alexander von Humboldt schimpft in einem Brief an einen Freund über das „elende Kameralistenvolk“ und schreibt: „Je mehr die Menschenzahl und mit ihr der Preis der Lebensmittel steigen, je mehr die Völker die Last zerrütteter Finanzen fühlen müssen, desto mehr sollte man darauf sinnen, neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel zu eröffnen“. Und weiter schreibt von Humboldt: „Überall sehe ich den menschlichen Verstand in einerlei Irrtümer versenkt, überall glaubt er die Wahrheit gefunden zu haben und wähnt, dass ihm nichts zu verbessern, zu entdecken übrig bleibe.“
Wie schön sagte es Leonardo da Vinci im Vorwort zu seinen anatomischen Zeichnungen. „Wenn die Zusammensetzung des Menschen dir als wunderbares Kunstwerk erscheint, dann bedenke, dass dies nichts ist im Vergleich zur Seele, die in diesem Bau wohnt und die, wie immer sie auch sein mag, etwas Göttliches ist.“ Und er schließt an, dass niemand es zulassen dürfe, dass Menschen getötet werden. Die bahnbrechenden Erkenntnisse über die Anatomie des Menschen erwarb Leonardo unter Lebensgefahr.
Der deutsche Physiker Werner Heisenberg forschte mit Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker und vielen anderen am Atom und seiner möglichen Nutzung. Er berichtete in seiner Autobiographie von einem Gespräch mit von Weizsäcker, das in England stattfand, wo die Wissenschaftler nach dem 2. Weltkrieg interniert gewesen waren. Schockiert von der Nachricht über den Atombombenabwurf in Hiroshima im August 1945 überlegten sie, ob sie als Wissenschaftler, die Teil der Atomforschung waren, Schuld auf sich geladen hätten. Heisenberg resümierte über dieses Gespräch, dass sich die menschliche Gesellschaft seit mehreren Jahrtausenden für die Suche nach Erkenntnis und deren Umsetzung im täglichen Leben entschieden habe. Die Anzahl der Menschen habe auf diese Weise wachsen können und alle wissenschaftlichen Errungenschaften der letzten 300 Jahre habe das Leben auf der Erde erheblich verbessert und ein weiteres Wachstum ermöglicht. Wolle man diese nach oben zeigende Kurve zurückdrehen, wie manche sich vorstellten, „so müsste die Zahl der Menschen auf der Erde in kurzer Zeit radikal reduziert werden. Das aber könnte wohl nur durch Katastrophen geschehen, die denen der Atombombe durchaus vergleichbar oder noch schlimmer wären.“
Es bleibe dabei, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis zum Guten, aber genauso auch zum Schlechten führen könne. Die Verantwortung des Forschers für das Gute sei eine ganz persönliche Entscheidung, die ihm niemand abnehmen könne.
Ob der junge Faust in seinem Kabinett (Goethe), der klagt, er habe erkannt, dass der Mensch nichts wissen könne, und sich nun der Magie ergeben wolle; ob die Missachtung der Landwirtschaft, die zum Untergang führen kann (Chamisso – Das Riesenspielzeug); ob die Geldgier der Goldgräber, die sich aus Lust auf Mehrhaben, dem Nicht-teilen-wollen selber umbringen (Geibel), oder die Frage: Was ist Glück? Was ist ein Unglück? und damit den Blickwinkel auf verschiedene Ereignisse beleuchtet (Kaléko – Chinesische Legende) – in allen Gedichten ging es immer um die Frage: Was ist unser Kompass? Was bestimmt unsere Entscheidungen?
Der zweite Teil der Gedichte beleuchtete mehr den Anteil, den jeder in seinem Inneren ausmacht. Nietzsche spricht von der Unendlichkeit, die ihn anblickt, Rose Ausländer in „Nicht fertig werden“ und Paul Celan in seinem „Leb die Leben“ verbindet die Aufforderung, das Leben, und das, was wir erleben, nicht eingeengt zu fassen, sondern alle Farben möglich werden zu lassen. Aber auch Ironie und Humor spiegelten den Ernst der anderen Gedichte mit Christian Morgenstern, Heinrich Heine und dem zeitgenössischen Lyriker Jan Wagner. Mit Goethes „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“ gelingt der Aufbruch in eine neue Zeit.
Zwischen den Texten und Gedichten erklang Musik. Sie kam vom Marimbaphon, oder auch einfach Marimba genannt, gespielt von Deborah Hildebrandt. Dieses Instrument, das seinen Ursprung in Afrika hat, wird mit vier Schlägeln, zwei in jeder Hand gespielt. Es ertönten in einer Art Tremolo Klangflächen, die sich in rhythmischen Folgen veränderten. Es erklangen einzelne musikalische Linien, sehr fein und differenziert gezeichnet, die sich mit rhythmischen Akkordverbindungen abwechselten. Deborah Hildebrandt hatte vier zeitgenössische Werke gewählt, die original für die Marimba komponiert worden waren, eines von Matthias Schmitt, der einige Jahre in Afrika verbracht hatte. In dieser Zeit entstand das Stück Ghanaia, ein polyrhythmisches Werk, das mit einer tiefen anrührenden Melodie beginnt. Weitere Werke von Eric Sammut (Rotation 4) und von Alice Gomez (Rain Dance) waren zu hören. Zum Abschluss des Abends erklang „A little Prayer“ von Evelyn Glennie. Diese Schlagzeugerin komponiert, obwohl sie taub ist, wie Deborah Hildebrandt erzählte, und spielt immer barfuß, um die Vibrationen zu spüren, die in dem Instrument reichlich entstehen. Das Stück klang wie ein Choral und mit den Akkordfolgen hatten die Zuhörer Zeit, Texte, Gedichte und Klänge wirken zu lassen.
Mancher ging sicherlich mit vielen Fragen nach Hause. Mit Gedanken über den Kompass der Gesellschaft, die Verantwortung eines jeden Menschen und über die gewaltige Wirkung von Sprache und Musik für die Seele.