Gib mir ein A

Vortrag von Martin Raguse, Kinderarzt, Hannover

43 % der Familien mit Kindern lesen diesen nicht vor. Dieser Tatbestand ist schockierend, das steht fest.

Denken wir an die vielen Defizite im Bildungsbereich, die uns alle beschäftigen, dürfen wir uns die Frage stellen: Gibt es begründete Zusammenhänge?

Diese Frage stellte sich auch Martin Raguse, Kinderarzt in Hannover und Mitinitiator des Projektes Lesestart Hannover e.V. Denn Sprache ist das Entscheidende in der Entwicklung eines Kindes und der Grad dieser Entwicklung entscheidet auch über das weitere Leben dieses jungen Menschen. Er habe, so Raguse, schon in den ersten seiner 17 Praxisjahre als Kinderarzt die Bedeutung des Spracherwerbs für die Entwicklung des Kindes höher bewertet als z.B. die motorische Entwicklung. Es sei zwar festgelegt worden, wann ein Kind ungefähr laufen können sollte. Aber nie sei untersucht worden, wie die weitere Entwicklung eines Kindes verläuft, das erheblich später laufen lernte.
Beim so bedeutsamen Prozess der Sprachentwicklung ist eine genaue Prognose über den späteren Erfolg des Kindes nicht erforscht. Eine erstaunliche Tatsache angesichts der wachsenden Zahl von Kindern, die mit dem Sprechen und Lesen ihre Schwierigkeiten haben.

Raguse geht davon aus, dass durch das Fehlen eines unmittelbaren Vormachens durch ältere Generationen bzw. Abguckens bei diesen vieles im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern verschüttet wurde. Um die Sprachentwicklung in die diagnostische Betrachtung einbeziehen zu können, informierte er die Eltern, die mit ihren wenige Tage alten Säuglingen zu den Untersuchungen in seine Praxis kamen, in persönlicher Beratung und durch eine Broschüre, von Anfang mit ihren Kindern zu sprechen.

Sprache für Kleinkinder ist immer Ansprache und damit Zuwendung. Dabei sollte jede Person nur in ihrer Muttersprache, d.h. auch nur in einer Sprache mit dem Kind sprechen (in Migrationfamilien gilt hier die Voraussetzung, dass das Kind frühzeitig in einen Kindergarten die deutsche Sprache erlernen kann). Singen für das Kind ist ebenso wichtig wie das Sprechen, denn Singen rhythmisiert die Sprache und gibt ihr eine Melodie, die für das Kind sehr wichtig ist.

Nun machte sich Raguse an die Arbeit, Statistiken über die Sprachentwicklung der Kinder zu erstellen, indem er die Eltern bei der U 7 Untersuchung (24-25 Monate) befragte: Wie viele Worte spricht ihr Kind mit Bedeutung? Spricht Ihr Kind Sätze? Wenn ja, wie viele Worte bilden einen Satz? Wie viele Minuten/Tag lesen Sie Ihrem Kind vor? Außerdem werden alle Kinder zu einem Katzensuchbild befragt?

Diese Erhebungen sowie die Ergebnisse der U 8 Untersuchungen (4 Jahre) sollte, so Raguse, die Möglichkeit schaffen, zu beurteilen:

Unterscheiden sich Kinder, deren Eltern von Anfang an vom Kinderarzt über die Bedeutung des Sprechens informiert wurden, in ihrer Entwicklung von anderen Kindern, deren Eltern nicht informiert werden konnten

Gibt es eine Aussage darüber, ob die Kinder, die bei der U 7 in der Befragung gut abschneiden (z.B. sie bilden Sätze mit mehr als 3 Wörtern, sie haben einen Wortschatz von mehr als 50 Worten, sie finden mehr als 5 Katzen) auch in ihrer weiteren Entwicklung gut voranschreiten.

Martin Raguse findet das alles spannend. Viele Ordner hat er gefüllt, viel Engagement in diese Tätigkeit gesteckt, die er neben den anderen ärztlichen Aufgaben erfüllen wollte. Er ist sich sicher: Der Rang in einer Skala der Entwicklung bleibt. Ein Kind, das mit kleinem Wortschatz und geringer Satzbildung untersucht wird, und intellektuell nicht in der Lage ist, Aufgaben wie das Katzensuchbild zufriedenstellend zu lösen, wird auch in späteren Jahren Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeit, dem Erwerb der Schrift und weitere Kompetenzen aufweisen, wenn nicht rechtzeitig Sprachtherapeuten helfen.
(Ein Grund, warum die Kinderarzt-Praxis Raguse von den Krankenkassen mit Regress bedroht war, weil er viele, nach Meinung der Krankenkassen zu viele, Sprachtherapien für Kinder verordnete, u.a. auch für Kinder mit 2 Jahren. Allerdings führten seine Erhebungen um die Wichtigkeit des Sprechens und Singens mit Kindern vom ersten Tag nach der Geburt und die gute Mitarbeit der Eltern in der Folge zu einer starken Verringerung sprachtherapeutischer Verordnungen in seiner Praxis.)

Wenn das so ist, wie wichtig ist es dann, eine Frühförderung durch Sprechen mit dem Kind zu erreichen? Martin Raguse ist durch seine Arbeit, die durch persönliches Engagement entstanden ist, überzeugt: 97 % aller Kinder wird durch die Kinderärzte erfasst. Also müssen alle Kinderärzte die sprachliche Entwicklung eines Kindes an die 1. Stelle setzen. Nur so kann der Kinderarzt bei den Kindern, die Unterstützung benötigen, Hilfe in Form von Sprachtherapien leisten. Darum geht es: Alle Eltern sollen beraten werden, alle Kinderärzte sollen dabei sein.

Ein 1. Schritt ist getan: In Hannover entstand Lesestart Hannover e.V. , ein Projekt von Kinderärzten, Sozialpädagogen, Müttern und wissenschaftlicher Begleitung durch die Leibniz-Universität.
Eine kleine Broschüre: „Gib mir ein A“ kann dort angefordert werden, ist auch im Internet unter www.lesestart-hannover.de zu lesen. Auch in russischer und türkischer Sprache ist diese Broschüre zu bekommen.

Geschrieben von Birgit Brenner
Sonnabend, 30. Oktober 2010


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