Katakomben der Seele

Buchbesprechung
Eine Reportage von 1950

In der immer heftiger in Deutschland und Europa geführten Migrationsdebatte zeigt die Fotoreportage Katakomben der Seele. Eine Reportage über Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem 1950 von Ré Soupault eine andere, längst vergessene Realität: 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebten 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene „im Vierzonen-Deutschland“. So unterstreicht dieses berührende Zeitdokument, herausgegeben von Manfred Metzner, Wunderhorn-Verleger und Nachlass-Verwalter Ré Soupaults, insbesondere die Wichtigkeit des Faktors Arbeit für den Integrationsprozess: „Unsere Heimat ist da, wo wir gern gesehen sind, wo wir Arbeit und Brot finden.“

(©Buchcover: Verlag Das Wunderhorn)
(©Buchcover: Verlag Das Wunderhorn)


Vom 3. bis 26. September 1950 reiste Ré Soupault (1901–1996), Bauhaus-Schülerin, Fotografin und Übersetzerin nach Schleswig-Holstein, Niedersachsen und nach Bayern im Vierzonen-Deutschland. Sie besuchte Flüchtlingslager, führte Gespräche mit den Verantwortlichen der Lager, mit Politikern und mit Flüchtlingen und Vertriebenen. Im ersten Teil „Heute noch 580 Massenwohnlager im Bundesgebiet. Tiefbunker: Katakomben der Seele“ beschreibt sie die erschütternden Zustände:
„Wohin ich auch kam auf meiner Reise durch das herbstliche Deutschland: Sei es zu dem Universitätsprofessor, der im besten Viertel der niedersächsischen Universitätsstadt eine 6-Zimmerwohnung sein eigen nennt, sei es zu der Schlossbesitzerin in einer der schönsten Gegenden Bayerns, sei es zum Bauern in Schleswig-Holstein … sie alle verfügen nicht mehr frei über ihren Wohnraum. Unzählige Namen stehen anstelle eines einzigen an den Wohnungstüren. [...] Niemand hat Anspruch auf mehr als ein Zimmer. Übrige Wohnräume werden beschlagnahmt, und der Wohnungsbesitzer muss die vom Wohnungsamt eingewiesenen Personen aufnehmen. In sehr vielen Fällen leben sogar ganze Familien in einem Raum. Und viele Hundertausende müssen mit Baracken oder sogar mit Bunkern vorlieb nehmen, diesen katakombenähnlichen, zwar bombensicheren aber fensterlosen Betonbauten, die oft bis zu drei Etagen unter der Erde liegen und – soweit sie nicht gesprengt worden sind – heute als Notwohnungen für Flüchtlinge dienen.
[...] Bei meinen Besuchen in den Wohnlagern Bayerns, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins habe ich kaum einen Flüchtling gesehen, der allein über ein Bett verfügt hätte. Hygienisch unverantwortlich werden solche Lebensbedingungen, wenn ein Teil der Familienmitglieder an einer ansteckenden Krankheit leidet, was sehr häufig der Fall ist. In dem Münchener Lager Waldfriedhof sah ich z.B. eine Familie, deren beide älteste Töchter von 9 und 11 Jahren lungenkrank sind. Für fünf Personen sind nur zwei Betten und ein Brett mit Strohsack vorhanden. Dies ist ein Fall unter Hunderttausenden und längst nicht der schlimmste. Es gibt Baracken, in denen heute noch 15 Personen zusammenhausen, fremde Männer, Frauen, Kinder. Niemand macht sich eine Vorstellung von dem, was diesen Kindern allein in moralischer Beziehung angetan wird.“

Bewegend beschreibt Ré Soupault die Not der Flüchtlingsjugend, der „Eltern- und Heimatlosen ohne Arbeit“:
„Wie aber sieht es bei den Jugendlichen aus [...] Diese Unglücklichen kommen zum grössten Teil aus den Ostgebieten, wo sie ihre Familienangehörigen, sei es durch das Kriegsgeschehen, sei es durch Verschleppung nach Russland oder durch Hunger und Kälte auf der Flucht im Winter 1944-1945 verloren haben. Sie alle haben eine völlig ungenügende Schulbildung, denn seit 1945 haben diese Kinder ein Vagabundendasein geführt. Sie bettelten und stahlen, schliefen in Höhlen oder Ruinen. Hunderttausende gingen damals zugrunde. Andere hatten Glück und gelangten nach Westdeutschland. Hin und wieder wurden sie von einer Fürsorge aufgegriffen, verschwanden dann aber wieder, bis schliesslich das Vagabundendasein zur Gewohnheit wurde. In den Städten sieht man diese Halbwüchsigen in Kneipen, Vergnügungslokalen, in den Bahnhofsgegenden umherziehen und man fragt sich, wie es möglich ist, dass der Staat nicht vor allem diese Gefahr – denn hier handelt es sich um eine der grössten sozialen und moralischen Gefahren – zu beseitigen versucht.

[...] Die grösste Tragik in unserem „Zeitalter des Hasses“ ist aber zweifellos das Schicksal elternloser Kinder. [...] Adalbert B., heute 18jährig, aus einer pommerschen Kleinstadt gebürtig, die im polnisch besetzten Gebiet liegt, erzählte mir sein Schicksal: ,Ich war 13 Jahre alt, als die Russen kamen. Meine beiden Brüder waren 2 und 7 Jahre alt. Meine Mutter, meine Tante, mein Vater und unser Dienstmädchen wurden mit vielen anderen zusammen fortgeführt. Ich blieb mit meinen kleinen Brüdern allein. Nach zwei Tagen holten die Russen mich auch ab. Ich wurde mit andern Jungen meines Alters in die Kirche gesperrt. In der Nacht konnte ich durch ein Fenster entkommen. Ich musste doch meine Brüder ernähren,’ fügt er fast entschuldigend hinzu. ,Zweimal haben die Russen mich nochmal geschnappt, aber jedesmal konnte ich wieder fliehen.’ Diese Kinder wurden später von ihren Grosseltern gefunden und kamen mit einem Transport nach Celle in Niedersachsen.“

Sie berichtet auch über entstehende Flüchtlingssiedlungen und Neuanfänge: „Neue Siedlungsbauten und arbeitende Handwerker geben der Landschaft etwas Hoffnungsfreudiges. [...] ihr Können, ihren Fleiss, ihre Ausdauer aber hat ihnen niemand nehmen können. Die in wenigen Jahren und unter den schwierigsten Bedingungen hervorgebrachten Leistungen dieser Kategorie beweisen es. [...] sie alle kommen allmählich wieder zu Arbeit und Brot, und anstatt dem Staat zur Last zu fallen, werden sie zu wichtigen Steuerzahlern.“ So sagte ihr ein armer, 70-jähriger Schönbacher Geigenbauer aus dem Sudentenland, die sich in der Nähe von Erlangen wieder angesiedelt hatten: „Unsere Heimat ist da, wo wir gern gesehen sind, wo wir Arbeit und Brot finden.“
Ré Soupaults Text ist von mikroskopischer Klarheit, an Fakten orientiert und das bewegende und empathische Zeit-Zeugnis einer Frau, die 1928 Deutschland verlassen, eigene Flucht- und Heimatverlusterfahrungen gemacht hatte und bis zu ihrem Tod 1996 nur noch für kurze Besuche nach Deutschland zurückkehrte. Wer um mehr Sachlichkeit in der aktuellen Debatte bemüht ist, findet jedenfalls in Ré Soupaults Katakomben der Seele. Eine Reportage über Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem 1950 einen wichtigen Wegweiser.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Samstag, 24. Februar 2024

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Katakomben der Seele
Eine Reportage von 1950

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