Die beste aller möglichen Welten

Buchbesprechung
Gottfried Wilhelm Leibniz:
„Wer mich nur aus meinen gedruckten Schriften kennt, kennt mich nicht."

Sieben entscheidende Tage in sieben verschiedenen Jahren im Leben Gottfried Wilhelm Leibniz’ schildert Michael Kempe, Leiter des Leibniz-Archivs in Hannover, in Die beste aller möglichen Welten. Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit., erschienen im S. Fischer Verlag. Die Biografie bietet eine besondere Gelegenheit, den Universalgelehrten – geboren 1646 in einer Zeit als der Dreißigjährige Krieg Europa in ein Trümmerfeld verwandelte – in seinem politischen und wissenschaftlichen Schaffen, aber auch in seinen kleinen Vorlieben, Nöten und Sorgen im Alltag kennenzulernen. Kempe zeichnet das Bild eines getriebenen, modernen Menschen, eines höchst erfolgreichen Netzwerkers, Workaholics, eben ein „Rolling-Stone“, der sich nicht der Verantwortung entzieht, „die beste aller möglichen Welten“ aus diesen Trümmern zu schaffen und dessen Hinterlassenschaft aus ca. 100.000 Blatt mit Konzepten, Notizen und Briefen die Forschung noch Jahre beschäftigen wird.

(©Buchcover: S. Fischer-Verlag)
(©Buchcover: S. Fischer-Verlag)


Schon der 29-jährige Leibniz, der die Wissenschaft früh zu seiner „Marotte“ erklärte, wusste, worauf es ankommt; im Januar 1675 schreibt er aus Paris an Herzog Johann Friedrich nach Hannover: „Paris ist ein Ort, an dem es schwerfällt, sich zu unterscheiden: man findet die fähigsten Menschen unserer Zeit und alle Arten der Wissenschaften, man muss viel arbeiten und braucht ein wenig Robustheit, um sich Reputation zu verschaffen.“ Leibniz entwickelt diese Robustheit zur Förderung des Gemeinwohls, des „bonum commune“ und wird in die wissenschaftlichen und politischen Schaltzentralen eingeführt, sei es durch die Entdeckung des Differential- und Integralzeichens, die binäre Rechenmethode und den Bau der Rechenmaschine, womit er die Grundlagen für die Computertechnologie und Künstliche Intelligenz geschaffen hat; sei es durch seine Vorschläge zur Bildungspolitik und Gründung von Akademien, zum Aufbau eines Gesundheitswesens, zur Erforschung des Wetters durch ein europaweites Netz an Wetterstationen, zur Entwicklung der Windkünste für den Silberbergbau im Harz, der Wasserkünste in Herrenhausen oder zum Aufbau von Filteranlagen zur Entsalzung von Meerwasser. Selbstbewusst schreibt er an einen Freund, „dass er es nicht gewohnt sei, sich, den politischen Launen irgendwelcher großer Herren’ zu unterwerfen.

Um das Arbeitspensum zu schaffen, trinkt er tagsüber starken Kaffee, kräftig gesüßt, liebt Schokolade und des Abends ein Gläschen Wein, ebenfalls gesüßt mit Kirschsirup aus Früchten, die im eigenen Garten wachsen. Morgens bleibt er, so Kempe, gerne länger im Bett, denn „Mir kommen manchmal morgens, während ich noch eine Stunde im Bett lieg, so viele Gedanken, dass ich den ganzen Vormittag, ja mitunter den ganzen Tag und länger benötige, um sie mir durch Aufschreiben klar werden zu lassen.“

1700 wird er Präsident der Berliner Sozietät der Wissenschaften, er ist Geheimer Justizrat des hannoverschen Kurfürsten, des preußischen Königs, seit 1712 des russischen Zaren Peter I, 1713 ernennt ihn Kaiser Karl VI. in Wien zum Reichshofrat. Und doch, obwohl sich für Leibniz, den Wissenschaftler, Projektemacher und Reformer, im Laufe seines Lebens so viele Türen öffnen, nimmt trotz Ehrungen und Titel die Sorge, im Alter zu verarmen, zu. In Wien muss er auf die Auszahlung seines Jahresgehalts warten, wird vertröstet und muss den Kaiser persönlich an die ausstehenden Zahlungen erinnern. „Der größte Teil seines Gehalts bleibt Papier und Willensbekundung.“, so Kempe. Sein Diener Johann Friedrich Hodann, der sich in Hannover um Wohnung und Haushalt kümmert, klagt in Briefen nach Wien um Geldmangel und „erinnert Leibniz beharrlich daran, dass er immer wieder gefragt werde, wann sein Brötchengeber endlich“ nach Hannover zurückkomme. 1714 berichtet Hodann nach Wien, wo sich seit 1713 die Pest ausbreitet: „Der Sommer sei ungewöhnlich heiß, … man fürchte eine Teuerung, im nahegelegenen Dorf Springe seien 24 Häuser abgebrannt. Glücklicherweise sei die Stadt Hannover von der Pest verschont geblieben. Wegen der abgewendeten Seuchengefahr habe man Dankesgottesdienste abgehalten und sogar ein Dankesfest gefeiert.“ Und 308 Jahre später, wie würde der Bericht über den Sommer im Jahr 2022 ausfallen?

Leibniz, oft verspottet als naiver, blauäugiger Optimist, schöpft hingegen aus der wissenschaftlichen Erkenntnis von Ursache und Wirkung, der Wirkung einer jeder einzelnen Handlung im „Palast der Lose des Lebens“ seinen Optimismus – der Erkenntnis, dass „in diesem Gewirr sich überkreuzender Abfolgen von Ursachen und Wirkungen … der geringste, unmerkliche Anstoß die mächtigsten Veränderungen hervorbringen“ kann. Doch Kempe spricht auch von einer „gewissen Schwermut“, die Leibniz manchmal erfasse: „Oft habe er, schreibt Leibniz einmal, mit Kummer an all die Übel gedacht, denen wir Menschen unterworfen sind: die Kürze des Lebens, die Eitelkeiten, die Krankheiten, schließlich der Tod, der unsere Leistungen, unser Mühen zu vernichten drohe: ,Diese Meditationen stimmen mich melancholisch.’“ Wer wäre wohl heute, in einer Zeit, in welcher sich in schwindelerregender Geschwindigkeit Geschichte in Europa zu wiederholen droht, vor einer solchen Melancholie gefeit? Leibniz kämpft sich durch die Erhöhung seines Arbeitspensums aus solchen Stimmungstiefen heraus, führt sogar zeitweilig diszipliniert Tagebuch darüber.

Wenn auch viele seiner Ideen, Projekte und Reformvorschläge in seiner Zeit nicht immer auf fruchtbaren Boden fielen und auf ihre Realisierung bis auf die heutige Zeit warten, flieht er nicht vor der Aufgabe, das Gemeinwohl, das „bonum commune“ aller Völker zu befördern und die „beste aller möglichen Welten“ auf den Weg zu bringen, denn in seinem Selbstverständnis steht der „Himmel für das Vaterland und alle wohlgesinnte[n] Menschen für dessen Mitbürger“. Trotz seines chronischen Gelenkleidens und der Entzündungen an den Beinen, die die Bewegung mit zunehmendem Alter immer mehr zur Qual machen, verringert sich seine Korrespondenz nicht. Nach Kempe sind 872 Briefe von und an Leibniz für das Jahr 1699 nachgewiesen, dem stehen im Jahr 1716 bei fortschreitender Gebrechlichkeit und Krankheit immerhin noch 850 bis 900 geschätzte Briefe gegenüber.

Doch „im Oktober 1716 verschlechtert sich sein Gesundheitszustand dramatisch. Die schmerzhaften Entzündungen der Gelenke an Armen und Beinen fesseln ihn zunehmend ans Bett. Ende des Monats kann Leibniz kaum noch laufen oder schreiben. Anfang November verfasst er letzte Briefe.
Aufgehört zu schreiben habe er, so berichtet sein Schreibgehilfe Johann Hermann Vogler, am 6. November. Wenige Tage später muss er auch das Lesen einstellen. Am Abend des 14. November, einem Samstag, stirbt Leibniz in seiner hannoverschen Wohnung in der Schmiedestraße, vermutlich an einem akuten Herz-Kreislaufversagen. Vogler zufolge soll er noch kurz zuvor nach Papier gegriffen haben …“

Ein absolut lesenswertes, inspirierendes Buch, das ganz aktuell angesichts des Krieges in Europa die Hoffnung aufblitzen lässt, „der geringste, unmerkliche Anstoß“, um im Leibniz’ Bild der Fliege zu bleiben, möge möglichst bald „die mächtigsten Veränderungen hervorbringen“: „Ich pflege zu sagen, eine Fliege könne den ganzen Staat verändern, wenn sie einem großen König vor der Nase herumsauset, so eben in wichtigen Rathschlägen begriffen …“


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Mittwoch, 5. Oktober 2022

Buchbesprechung

Gottfried Wilhelm Leibniz:
„Wer mich nur aus meinen gedruckten Schriften kennt, kennt mich nicht."

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