„Der Mann, der den Holocaust stoppen wollte"
Unter dem Titel "Kurier der Erinnerung - Das Leben des Jan Karski" ist rechtzeitig zum 100. Geburtstag von Jan Karski, der im April 1914 in Lodz geboren wurde und während des Zweiten Weltkrieges einer der wichtigsten Kuriere des polnischen Untergrundes war, die erste deutschsprachige Biografie erschienen. Die Autorin und Journalistin Marta Kijowska beschreibt und erzählt in dieser bewegenden und gut recherchierten Biografie das Leben eines Mannes, der in die Geschichte als „der Mann, der den Holocaust stoppen wollte“ einging. Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli gibt Marta Kijowska einiges über diese außergewöhnliche Persönlichkeit preis.
Frau Kijowska, was hat Sie dazu bewogen, über das Leben von Jan Karski beziehungsweise Jan Kozielewski, „wie sein echter Name lautete“, zu schreiben – ein Unterfangen, das den großen Zeitrahmen von 1914 – dem Geburtsjahr Karskis– bis zum Jahr 2000 umfasst?
Die Idee kam mir im Frühjahr 2011, als zeitgleich drei Bücher erschienen: in Deutschland Karskis Erinnerungen, Mein Bericht an die Welt, und der Roman des französischen Autors Yannick Haenel, Das Schweigen des Jan Karski, und in Polen ein opulentesBuch des Historikers Andrzej Zbikowski, das sich zwar eine Biografie nannte, sich in Wirklichkeit aber nur – ähnlich wie die beiden anderen Bücher – auf Karskis Kriegserlebnisse bezog. Das Medienecho in beiden Ländern war ziemlich groß, und ich dachte in diesem Moment: Wieso schreibt nicht endlich jemand ein Buch über Karskis gesamtes Leben? Nicht nur, weil es faszinierend war, sondern auch, weil das, was er in seiner Kindheit und Jugend erlebte, für seine Kuriertätigkeit während des Krieges sehr prägend war, und weil vieles, was er nach dem Krieg tat bzw. nicht tat – auf Letzteres bezieht sich eben der Titel von Haenels Roman –, unmittelbar aus dieser Tätigkeit resultierte. Und weil sich außerdem der späte, „amerikanische“ Karski von dem jungen Kurier aus der Kriegszeit sehr stark unterscheidet, was ebenfalls hochinteressant ist. Dass dieser jemand ich sein könnte, kam mir zunächst gar nicht in den Sinn – ich bin keine Historikerin oder Politikwissenschaftlerin, sondern Kulturjournalistin, die in ihrem journalistischen Alltag und früheren Büchern in erster Linie über die polnische Literatur schreibt. Doch irgendwann dachte ich: Warum eigentlich nicht ich? Und ich fing an, über Karskis Leben zu recherchieren.
Wie sind Sie vorgegangen?
Wie bei jedem meiner Bücher denke ich nicht nur daran, was ich erzählen will, sondern auch daran, dass ich es für den deutschen Leser schreibe, dem viele Fakten und Zusammenhänge, die für einen Polen selbstverständlich sind, kurz erklärt werden müssen. In diesem speziellen Fall hatte ich auch noch die Schwierigkeit, dass Karski den wichtigsten Teil seiner Biografie, nämlich seine Kriegserlebnisse, bereits selbst in Mein Bericht an die Welt beschrieben hat. Eine der Fragen, die ich mir anfangs stellte, war also, wie soll ich diesen Teil erzählen, damit es nicht einfach nur eine Nacherzählung seines Berichts ist, sondern sich doch als eigener Text liest. Und es haben mir dabei zwei Dinge geholfen: Erstens, Karskis Buch entstand während des Krieges in Amerika, d. h. einerseits sollte es propagandistischen Zwecken dienen, andererseits musste er daran denken, Menschen, die in Polen nach wie vor kämpften, nicht zu gefährden – Namen verändern, Fakten auslassen oder verfälschen etc. Eine sehr verlässliche Quelle war dieses Buch also nicht. Und zweitens, er hat nach dem Krieg, wie gesagt, vieles anders gesehen und zum Teil sehr kritisch kommentiert – die Arbeit des Untergrunds, die Politik der Exilregierung oder auch seine eigene Rolle. Diese Diskrepanz zwischen dem jungen und dem reifen Karski wollte ich unbedingt zeigen – und dazu (wie auch zu seinem gesamten Leben) hatte ich genug Quellen: seine Zeitungs- und Rundfunkinterviews, seine Briefe, mehrere Dokumentarfilme über ihn oder auch das Buch, das er selbst als sein wichtigstes betrachtete und das es bis jetzt auf Deutsch noch nicht gibt: The Great Powers and Poland. Ich habe natürlich auch etliche Zeitzeugen und Historiker befragt, zumal ich ja am Rande auch die Geschichte all der Menschen erzähle, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten.
In diesem Jahr jährt sich am 1. September 2014 der 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen und somit der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Wie würden Sie Jan Karski, der im November 1939 – er war 25 Jahre alt – Verbindung zum polnischen Untergrund aufnahm, insbesondere jungen Menschen gegenüber beschreiben? Wie man in Ihrem Buch lesen kann, vermittelte sein älterer Bruder Marian den Kontakt. Was zeichnet die Persönlichkeit dieses Kuriers des polnischen Untergrundes aus?
Karskis Bruder war 18 Jahre älter als er und war für ihn eine Art Vaterersatz. Vor dem Krieg half er ihm, seinen Traumberuf – den eines Diplomaten – zu ergreifen, und nach Kriegsausbruch ermöglichte er ihm den Einstieg in die Konspiration. Er war es auch, der ihn der Untergrundführung als Kurier empfahl. Er kannte seine Intelligenz und analytische Schärfe, die ihm helfen würden, sich in der immer komplizierteren politischen Untergrundszene zurechtzufinden. Sein phänomenales Gedächtnis. Seine Disziplin, Loyalität und Verbindlichkeit. Er wusste, dass seine tiefe Religiosität ihm niemals erlauben würde, einen vor Gott abgelegten Eid zu brechen. Und er wusste auch, dass er Auslandserfahrung hatte, mehrere Sprachen beherrschte, sehr ehrgeizig war und einen sehr hohen ethischen Anspruch an sich selbst hatte. Dieser Charakterzug fällt bei Karski von Anfang auf. Als er nach der Beendigung seiner ersten Mission einen Bericht für die Exilregierung schreiben sollte, schloss er dessen ersten Teil, „Persönliche Angaben des Berichterstatters“, mit den Worten ab, er wolle Polen „auf die schwierigste Art dienen“. Und auch in seinem Buch kommt das Wort „dienen" oft vor – was für die heutige Generation ziemlich antiquiert klingt, für die jungen Menschen von damals aber ganz selbstverständlich war. Sie waren in der Zwischenkriegszeit aufgewachsen, in einer Zeit also, in der Polen nach über 120 Jahren Teilung seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte.
Karski selbst bezeichnete sich, wie Sie schreiben, nur „als eine zwischen den Fronten hin und her gereichte Grammophonplatte“. Woher nimmt dieser junge Mensch, obwohl er im Juni 1940 die Foltermethoden der Gestapo erfahren musste, die Kraft, zwei Jahre später im Oktober 1942 erneut eine Geheimmission zu übernehmen? Eine Mission, die der Exilregierung, der britischen und amerikanischen Regierung die Forderung zu handeln mit der Information überbrachte: „Die letzten Schätzungen zu der Zahl der Juden, die aufgrund der Anordnung von Himmler auf diese Weise ermordet wurden, bewegen sich in der Region von zwei Millionen.“ War es das Wissen um die „industrielle“ Ermordung der Juden, die Karski bewegte, den Auftrag anzunehmen?
Die Frage, woher er nach den traumatischen Erlebnissen von 1940 die Kraft für eine Mission nahm, stellte ich Professor Karski auch, als ich ihn bei seinem Deutschlandbesuch 1997 für den Bayerischen Rundfunk interviewte. Und seine Antwort lautete: „Natürlich war dazu Mut nötig. Doch in meinem Fall war es noch etwas anderes: Ich hatte keinen Zweifel, dass ich für diese Mission geeignet war. Ich glaubte einfach an mich. Weil mir doch meistens alles gelang. Und außerdem: Ich beherrschte Fremdsprachen, ich kannte Europa, ich war gesund, sportlich. Es gab damals nicht viele junge Polen, die diese Qualifikationen hatten. Und die, die sie hatten, befanden sich längst im Westen. Es war also ganz einfach: Ich wollte mich wieder nützlich machen.“ Und ob das Wissen um die Ermordung der Juden eines seiner Motive war? Nein. Das ist eben eines der Missverständnisse, die ich in meinem Buch zu korrigieren versuche: Karskis Mission von 1942/43 – zumindest zu dem Zeitpunkt, als er den Auftrag annahm – galt nur den Belangen des polnischen Untergrunds und nicht der Judenvernichtung. Erst als die jüdischen Widerstandskämpfer von seiner bevorstehenden Reise nach London erfuhren, baten sie ihn, auch in ihrem Namen zu agieren – was er bekanntlich auch tat. Das war aber kein Befehl seiner Vorgesetzten, er hätte es auch ablehnen können.
Viele Überlebende des Holocaust erfuhren erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges über Karskis „jüdische Mission“, über sein Zusammentreffen u. a. mit dem britischen Außenminister Anthony Eden und im Januar 1943 mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt. Und sie hadern mit der Politik der Alliierten, insbesondere mit Präsident Roosevelt. Wie beurteilte Karski die Rolle Roosevelts?
Da muss man auch zwischen dem jungen und dem reifen Karski unterscheiden, der ja Politikwissenschaftler war und an der Georgetown University in Washington u. a. die Geschichte der Diplomatie unterrichtete. Damals, als Kurier, war er von Roosevelt im wahrsten Sinne überwältigt. Er war ja ein 28-jähriger polnischer Offizier niedrigen Ranges und durfte sich plötzlich mit dem mächtigsten Mann der Welt unterhalten. In den späteren Jahren sollte er diese Szene oft nachspielen und dabei mit viel Ironie den Präsidenten imitieren – seine imposanten Gesten, seine Mimik, seine Art zu sprechen und die lange Zigarettenspitze zu halten. Doch in diesem Moment war er zutiefst bewegt und schrieb, im Gegensatz zu dem polnischen Botschafter, der ihn begleitete, jedem Wort Roosevelts und jeder noch so kleinen Entscheidung, die dieser nach ihrem Treffen fällte – zum Beispiel ließ er ihm noch am selben Tag eine Liste schicken, auf der die Namen all der amerikanischen Politiker standen, die nach seiner Ansicht Karskis Bericht unbedingt auch hören sollten – , enorm viel Bedeutung zu. Seine Aufregung war umso größer, als er von Roosevelt zum Abschied zu hören bekam: „Sagen Sie Ihren Landsleuten, dass wir den Krieg gewinnen und dass Gerechtigkeit und Freiheit siegen werden. Sagen Sie ihnen, dass sie in mir einen Freund haben.“ Später beurteilte er sowohl Roosevelts Engagement in Sachen Judenhilfe als auch seine Politik gegenüber Polen sehr nüchtern, aber er war deswegen nicht verbittert. Eine seiner typischen Aussagen in Bezug auf Letztere lautete: „Die Vorwürfe der Polen an die Adresse Roosevelts, er habe uns in Jalta verraten, sind sinnlos. Roosevelt war kein Präsident Polens. Er war der Präsident der Vereinigten Staaten.“
„Ich habe versucht, den Holocaust zu stoppen, doch leider ist mir dies nicht gelungen.“, zitieren Sie Karski. Sehen Sie in dieser bitteren, ja verzweifelten Einschätzung auch den Grund, dass Karski erst nach 30 Jahren sein Schweigen über seine Missionen als Kurier des polnischen Untergrundes brach?
Es war ein wichtiger Grund, aber nicht der einzige. Unmittelbar nach dem Krieg hatte er das Bedürfnis, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein neues Leben anzufangen, nicht nur weil er verbittert war, sondern auch weil er durch die damaligen Umstände dazu gezwungen wurde. Seine eigene Situation und auch die seines Landes hatten sich ja radikal verändert. Polen war jetzt ein kommunistisches Land, in das er nicht zurückkehren wollte, aber in Amerika, wo er seine Zukunft sah, war an das Anknüpfen an die Diplomatenkarriere, die er vor dem Krieg eingeschlagen hatte, nicht zu denken. Es dauerte also eine Weile, bis er sich in dieser neuen Situation zurechtgefunden hatte. Er heiratete die Tochter eines südamerikanischen Diplomaten und ging mit ihr nach Caracas, ließ sich nach zwei Jahren wieder scheiden und kam nach Washington zurück, musste sein Studium wiederholen, weil seine polnischen Diplome in Jura und Diplomatie nicht anerkannt wurden, und in möglichst kurzer Zeit promovieren, weil er es seinem Förderer versprochen hatte, begann, an der Georgetown University zu unterrichten und für die US-Regierung zu arbeiten. Kurz: Er war vor allem damit beschäftigt, sich in diesem neuen, amerikanischen Leben einzurichten – und hatte dabei auch viel Erfolg. Und später, in den fünfziger Jahren, als er seine zweite Frau, die Tänzerin Pola Nirenska, kennen lernte – sie war eine aus Warschau stammende Jüdin, deren Familie größtenteils ermordet wurde –, hatten sie sich gegenseitig versprochen, nie wieder über den Krieg zu sprechen. Möglicherweise hätte er dieses Versprechen für den Rest seines Lebens oder zumindest bis zum Tod seiner Frau (1992) gehalten, wäre da nicht die Hartnäckigkeit des französischen Filmemachers Claude Lanzmann gewesen, der ihn als erster dazu „zwang, sein Schweigen zu brechen.“
„Im Herzen bin ich Pole“, sagte Jan Karski, der 1954 amerikanischer Staatsbürger wurde, über sich. Doch welche Rolle sah er für die Zukunft Polens, dem großen Verlierer des Zweiten Weltkrieges, in Europa zwischen den Blöcken?
Damit, dass Polen der große Verlierer dieses Krieges war, konnte er sich genauso wenig abfinden, wie mit seiner eigenen gescheiterten „jüdischen“ Mission. Das war auch sein wichtigster Grund, das Buch The Great Powers and Poland zu schreiben – ein Werk, an dem er fünfzehn Jahre arbeitete und das in den Fachkreisen mit größtem Respekt aufgenommen wurde. „Während des Krieges“, so sein Selbstkommentar, „hatten ich und Tausende anderer Menschen alles getan, was das Vaterland von uns verlangte. Dann ging der Krieg zu Ende, und dieses Ende wurde für uns zu einer fürchterlichen Niederlage. Polen war ein treuer Verbündeter gewesen, der an allen Fronten gekämpft hatte, und trotzdem standen wir nach dem Krieg als Verlierer da. Dieser Gedanke regte mich furchtbar auf. Ich wollte unbedingt wissen, was da passiert war, wie die Denkweise all dieser Churchills, Roosevelts und Stalins gewesen war, wie es zu dieser Niederlage kommen konnte.“ Dass er also in Bezug auf die Zukunft Polens, das einen Teil seines Territoriums verloren und das kommunistische Regime aufgezwungen bekommen hatte, optimistisch war und dem Land eine große Rolle im neuen Europa zuschrieb, kann man nicht gerade behaupten. Er machte sich auch keine Illusionen, dass die Zeit der sowjetischen Herrschaft schnell vorbei sein würde – es war ihm bewusst, dass Polen für Jahrzehnte Teil des kommunistischen Lagers geworden war. Umso glücklicher war er natürlich, als dieses Lager 1989 zusammenbrach und sein Land – in das er zwei Jahre später zum ersten Mal seit dem Krieg offiziell eingeladen wurde und das er seitdem immer wieder besuchte – sich endlich wieder als frei bezeichnen konnte.
Frau Kijowska wir danken Ihnen.
Vita: Marta Kijowska
Marta Kijowska wurde 1955 in Krakau geboren und lebt seit 1979 in München. Sie arbeitet seit Jahren als Journalistin insbesondere zu Themen der polnischen Kultur, Literatur und Geschichte für Zeitungen (u. a. FAZ, NZZ), Hörfunk und Fernsehen (u.a. BR, DLF, SWR) und auch als Sachbuchautorin und literarische Übersetzerin aus dem Polnischen.
Nach dem Studium der Germanistik in Krakau und München war sie u.a. als Rezensentin der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks (1985/86), Dozentin für polnische Sprache und Literatur an der Universität München (1986/87) und in einer Sonderfunktion am Goethe-Institut Warschau (1991/92) tätig. In den Jahren 1987-1991 und 1997/98 war sie Redakteurin von Kindlers Literatur Lexikon, das sie darüber hinaus als Fachberaterin für polnische Literatur betreute. Sowohl für dieses Lexikon als auch für andere vergleichbare Werke verfasste sie zahlreiche Beiträge über polnische Schriftsteller.
Sie erhielt verschiedene Auszeichnungen: Österreichischer Jugendbuch-Übersetzungspreis (1989), Andrew-Mellon-Stipendium des Wissenschaftskollegs zu Berlin (2001), Stipendium der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit (2004), Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung (2005).
Zu ihren letzten Buchpublikationen zählen:
* Der letzte Gerechte. Andrzej Szczypiorski – eine Biographie, Aufbau 2003/Tb-Ausgabe: Andrzej Szczypiorski – eine Biographie, Diogenes 2006/.
* Krakau. Spaziergang durch eine Dichterstadt, dtv premium 2005.
* Slawomir Mrozek: Balthasar. Autobiographie, Diogenes 2007 /Übersetzerin/.
* Polen, das heißt nirgendwo. Literarische Essays, C.H. Beck 2007.
* Die Tinte ist ein Sprengstoff. Stanislaw Jerzy Lec – der Meister des unfrisierten Denkens, Hanser 2009.
* Kurier der Erinnerung. Das Leben des Jan Karski, C.H. Beck 2014.
* S awomir Mro ek: Karneval oder Adams erste Frau, Diogenes 2013 /Übersetzerin/