„Gute Pflege ist ein Menschenrecht!"

Interview mit Claus Fussek

„Gute Pflege ist ein Menschenrecht!“ fordert der Sozialpädagoge Claus Fussek. Er ist seit über 35 Jahren in der häuslichen Pflege tätig und engagiert sich bundesweit öffentlich für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der häuslichen und stationären Pflege.

Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli spricht er von einem „Teufelskreis“ in der Pflege und beschreibt, wo auch in Deutschland Menschenrechtsverletzungen beginnen und die Menschenwürde verletzt wird.

Claus Fussek auf einem Foto

Herr Fussek, Waschen, Anziehen, Toilettengang und Essen, alles im minimalsten Minutentakt organisiert, so sieht die Realität in vielen deutschen Altenpflegeeinrichtungen aus – also ein Zeitrhythmus, dem selbst junge, gesunde Menschen nicht unbedingt folgen könnten. Was läuft falsch, denn seit Jahren wird in Deutschland vom „Pflegenotstand in der Altenpflege“ gesprochen, von Personalmangel und „Billig-Pflege“, die Einzug hält, ohne dass sich scheinbar etwas ändert oder?

Ich frage mich, wer sich dieses absurde, perverse System eigentlich ausgedacht hat? Ich kenne keinen Menschen, der oder die nach Minuten gepflegt werden möchte, kenne auch keine Pflegekraft, die gelernt hat, in diesem Zeitrhythmus zu pflegen und das auch noch zu dokumentieren. Es gibt auch Niemand, der oder die für schlechte Pflege ist! Wir haben doch längst keinerlei Erkenntnisprobleme. Wir müssen alle umdenken und endlich Konsequenzen ziehen. Offensichtlich verdienen "in der Pflege" sehr viele Menschen/Organisationen sehr gut in diesem System.

Wieso haben alte, kranke und sterbende Menschen in unserer Gesellschaft keine starke Lobby? Immerhin kann doch jeder von uns einmal in diese Lage kommen.

Wir verdrängen dieses gesamtgesellschaftliche Problem und hoffen, dass wir nicht mit diesem Thema konfrontiert werden. Bei diesem Thema kann es eigentlich überhaupt keine Gegner geben!

Sie sagen „gute Pflege ist ein Menschenrecht“ und sprechen sogar von Menschenrechtsverletzungen in Pflegeheimen, welche Beispiele können Sie da anführen?

Seit vielen Jahrzehnten erhalte ich täglich zahlreiche Briefe, Anrufe und Mails von verzweifelten Pflegekräften und Angehörigen, die mir – meist vertraulich oder anonym – über die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der ambulanten und stationären Pflege berichten. Es ist kaum auszuhalten, dass so viele Menschen "in der Pflege" Bescheid wissen, schweigen und mitmachen. Die zwangsweise Unterbringung in einem Doppelzimmer mit einem wildfremden Menschen wäre für mich unerträglich! In vielen Heimen ist es z.B. nicht möglich, dass pflegebedürftige, hilflose Menschen in Würde ihr Essen erhalten, zur Toilette gebracht werden oder an die frische Luft kommen, einsam vegetieren sie dahin, von ihren Angehörigen im Stich gelassen, sterben sie allein! Viele Pflegekräfte sind auch allein gelassen, überfordert und überlastet. Es ist ein Teufelskreis. Jeder, der es wissen will, kann sich vor Ort persönlich von der Lebenssituation im Pflegeheim oder Krankenhaus überzeugen.

Herr Fussek, Sie sind Mitautor des Buches „Im Netz der Pflegemafia – wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden“. Aber versucht die Wirtschaft, die den demographischen Wandel in unserer Gesellschaft schon lange voll im Blick hat, nicht lediglich auf die Missstände im Pflegebereich wie u. a. dem akuten Personalmangel zu reagieren, indem sie z. B. Pampers entwickelt, die 3 Liter fassen können?

Beim Schreiben unseres Buches "Im Netz der Pflegemafia" wurde uns immer wieder "unter der Hand", "im Vertrauen" bestätigt, dass in dem Pflege- und Gesundheitssystem an den Folgen gefährlicher, schlechter Pflege sehr viel Geld verdient wird. Vermeidung von Pflege, das Hinauszögern der Pflegebedürftigkeit durch gezielte Prävention und Rehabilitation würde nicht nur Geld sparen, sondern auch sehr viel menschliches Leid vermeiden. Das "Pflegen in die Betten", eine höhere Pflegestufe, das ist wirtschaftlich interessant! "Jeder Oberschenkelhalsbruch, jedes Druckgeschwür ist ein Wirtschaftsfaktor in der Chirurgie und sichert Arbeitsplätze!" (Ein Chirurg!) Ein perverses System!

Welchen Rat geben Sie Pflegekräften, die die Augen nicht vor den Missständen verschließen können, jedoch Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und ihren Ärger und ihre Frustration darüber quasi in sich „aufessen“, zumal sie sich sicher auch als das schwächste Glied in der Kette zwischen Heimleitung, betreuenden Ärzten, Medizinischem Dienst, Angehörigen und vor allem Betreibergesellschaften sehen?

Ca. zwei Drittel der "InformatenInnen", die sich bei mir melden, sind Pflegekräfte. Die meisten wollen anonym bleiben, aus Angst vor ihren eigenen Kollegen und Kolleginnen! Das ist doch der Wahnsinn! Alten- und Krankenpflege ist jedoch ein absolut krisensicherer Beruf! Geht in die Gewerkschaften und Berufsverbände, alle Sozialberufe müssen sich solidarisieren. In den Heimen müssen sich Pflegekräfte, Angehörige und Ärzte verbünden. Ich kenne Pflegeheime und Krankenhäuser die eine niedrige Krankheitsquote und keine Personalfluktuation haben: Zufriedene MitarbeiterInnen – zufriedene Gäste! Selbstverständlich geht es auch anders! (Eine interessante Pflegeinitiative ist www.pflege-shv.de)

Wie sieht es mit den Behörden der Heimaufsicht aus? Wäre dort nicht eine wichtige Schaltstelle für Veränderung?

Die beste Heimaufsicht sind kritische, engagierte Angehörige und BesucherInnen – sie sind ein funktionierendes Frühwarnsystem! Für unsere Eltern sind wir, die Angehörigen, verantwortlich – wir müssen uns kümmern!

Für Angehörige ist eine Heimunterbringung oftmals keine leichte Entscheidung. An wen können sie sich mit Beschwerden wenden? Oft richtet sich ja der Ärger nur gegen die ohnehin schon „entnervten und überarbeiteten“ Pflegekräfte, zumal die monatlichen Kosten für die Heimunterbringung nicht gerade gering sind.

Ein Pflegeheim ohne Mängel kann es nicht geben, entscheidend ist, wie professionell offen, selbstbewusst, selbstkritisch und ehrlich Pflegekräfte und Leitung mit den Beschwerden umgehen! Wir benötigen in den Pflegeheimen unbedingt zusätzlich therapeutisches, psychologisches Personal, SeelsorgerInnen und SozialpädagogenInnen für die auch überforderten Angehörigen. Regelmäßige Supervision, Fort- und Weiterbildung für alle MitarbeiterInnen muss in jedem Pflegeheim selbstverständlich sein!

Was sagen Sie Angehörigen, die ihre pflegebedürftigen Verwandten in Pflegeeinrichtungen in Osteuropa oder Thailand – inzwischen kommt sogar auch China ins Gespräch – unterbringen? Was halten Sie von diesem Weg?

Dieser "Oma/Opa Export" dürfte relativ selten vorkommen. Wenn die alten Menschen sich selber entscheiden, ist das o. k. In Deutschland muss aus finanziellen Gründen niemand seinen Lebensabend im Ausland verbringen. Es sei denn, "die Erben" treffen diese Entscheidung!

Vita: Claus Fussek

Claus Fussek – geb. 1.2.1953, verheiratet, zwei Söhne – ist Diplom-Sozialpädagoge. Seit über 35 Jahren ist er in der häuslichen Pflege tätig (Vereinigung Integrationsförderung e.V. in München) und engagiert sich bundesweit öffentlich für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der häuslichen und stationären Pflege. Er ist u. a. Mitautor des Buches: "Im Netz der Pflegemafia – wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden" (Fussek/Schober), Goldmann Taschenbuch.
Für sein besonderes Engagement wurde ihm im Januar 2008 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Montag, 18. Februar 2013


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