Gute Pflege ist ein Menschenrecht!
Seit Jahrzehnten beklagt Claus Fussek die menschenunwürdigen Bedingungen in vielen Senioren- und Pflegeeinrichtungen, wie auch im Convivio-Interview 2013. Am 1. Februar 2022 ist diese engagierte, mutige Stimme alter und pflegebedürftiger Menschen in Deutschland in den Ruhestand gegangen. Claus Fussek spricht vom „Unruhestand“ und fordert einen dringenden Perspektivenwechsel in der Pflege: „Nicht die Pflegekräfte sind die Opfer, sondern die wehrlosen, ausgelieferten, hilflosen, kranken, pflegebedürftigen, verletzlichen, sterbenden Menschen! … Wir sind und bleiben ALLE zuständig und verantwortlich!“
Herr Fussek, es ist nun fast zehn Jahre her, dass Sie im Interview mit Convivio mundi sagten: „Gute Pflege ist ein Menschenrecht ! Was hat sich in dieser Zeit für ältere Menschen in den Senioren- und Pflegeinrichtungen getan? Gibt es Veränderungen zum Besseren?
Zum Beginn meines „Un-Ruhestandes“ wurde ich von verschiedenen Medienvertreterinnen und Medienvertretern mit dieser Frage konfrontiert: Ich habe immer auf meine Interviews vor 10/15/20 Jahren verwiesen. Es ist schwer vorstellbar, aber es hat sich tatsächlich in der bundesdeutschen Pflegelandschaft wenig und in vielen Bereichen gar nichts verändert. Sicher kennen wir alle die vorbildlichen Einrichtungen und ambulanten Dienste, engagierte, selbstbewusste, couragierte, empathische Heimleitungen, Pflegekräfte und kümmernde Angehörige – die sog. Leuchttürme! Aber nach wie vor erhalte ich beinahe täglich zahlreiche „Hilferufe“ (Mails, Briefe, Anrufe) von verzweifelten Pflegekräften und ohnmächtigen Angehörigen. Eigentlich kann ich meine eigenen Argumente nicht mehr hören!
Wie ist das zu erklären? Wir werden doch alle älter und müssen uns fragen, ob wir so behandelt und gepflegt werden wollen? Eigentlich müsste es einen Aufschrei gegen dieses „Alt und abgeschoben“ geben! Warum ist das öffentliche Interesse so gering?
Schwer zu erklären! Es gibt bei diesem Thema „eigentlich“ keine Gegner ... niemand ist für schlechte Pflege … niemand möchte selber im Doppelzimmer würdelos gepflegt werden ... kein Mensch ist gegen eine deutlich bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen von Pflegekräften. Meine Forderung, dass sich die Pflegekräfte endlich untereinander und mit den ihnen anvertrauten, wehrlosen, ausgelieferten Menschen und deren Angehörigen solidarisieren, funktioniert nur selten. Wir haben uns offensichtlich an die Zustände in sehr vielen Pflegeheimen gewöhnt! Ich bin immer wieder fassungslos, dass so viele Menschen „eigentlich“ Bescheid wissen, wegschauen, mitmachen, schweigen, sich ständig über ihre Arbeitsbedingungen beklagen, aber dieses System weiter stabilisieren.
Die Medien haben aber seit Ausbruch von COVID-19 viel über die Vereinsamung der älteren Menschen in den Heimen gesprochen. Wie sehen Sie die Auswirkungen dieser Pandemie?
Corona hat sicherlich sehr viele bekannte, strukturelle Probleme sichtbar gemacht. Ich hatte auch immer wieder mal die Hoffnung, dass wir nun gemeinsam etwas verändern. Ehrlich gesagt: „Geklatscht“ wurde vor allem für die Pflegekräfte auf den Intensivstationen und zur unbequemen Wahrheit gehört: Auch vor Corona haben nur ca. 10 % der Bewohnerinnen und Bewohner in den Heimen Besuch erhalten!
Welche Mindestanforderungen müssten für eine würdevolle Pflege gewährleistet sein?
Ich verweise nach wie vor auf „meine“ eine Seite (!) Mindestanforderungen, die ich 2002 – also vor 20 Jahren – formuliert habe!
> Mindestanforderungen zum Nachlesen (PDF)
Dazu gehört u.a., dass jeder pflegebedürftige Mensch TÄGLICH seine Mahlzeiten und ausreichend Getränke/Flüssigkeit in dem Tempo erhalten muss, in dem er kauen und schlucken kann; er muss TÄGLICH so oft zur Toilette gebracht oder geführt werden, wie er es wünscht, TÄGLICH (wenn gewünscht!) gewaschen, angezogen, gekämmt werden, Mundpflege erhalten und (auf Wunsch) TÄGLICH die Möglichkeit bekommen, sein Bett zu verlassen und an die frische Luft zu kommen.
Vehement fordern Sie einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel in der Pflege, erklären Sie das bitte …
Wir brauchen endlich einen ehrlichen, ethischen Perspektivenwechsel, eine Art „MeToo“-Diskussion in der Pflege. Die Grundlage ist u.a. der ICN-Ethikkodex des Weltverbandes der Pflegeberufe: „Die grundlegende professionelle Verantwortung der Pflegenden gilt dem pflegebedürftigen Menschen!“ – eine verbindliche Selbstverpflichtung für alle Pflegenden! Nicht die Pflegekräfte sind die Opfer, sondern die wehrlosen, ausgelieferten, hilflosen, kranken, pflegebedürftigen, verletzlichen, sterbenden Menschen!
Sollte dies nicht eigentlich sowieso der Blick und Ansatz von Heimaufsicht und Medizinischem Dienst sein?
In den vergangenen Jahrzehnten wurde mir immer wieder deutlich, dass die meisten Pflegeheime „eigentlich“ rechtfreie Räume sind. Für die alten, pflegebedürftigen, und ich betone noch einmal, vollkommen wehrlosen, ausgelieferten und sterbenden Menschen sind und bleiben wir ALLE zuständig und verantwortlich! Pflegeheime sollten „eigentlich“ Schutzräume sein. Das Frühwarnsystem und die staatlichen Kontrollen wie Heimaufsicht und Medizinischer Dienst waren/sind offensichtlich überfordert und haben versagt. Zur ehrlichen Wahrheit gehört aber auch, dass sich das öffentliche Interesse an den Missständen und Menschenrechtsverletzungen in sehr vielen Heimen beschämend in Grenzen hält. Die Heimträger und Politik waren meistens nur über die „Skandalisierung in den Medien“ empört. In der Regel sind wir alle sehr schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen. Ein befreundeter Heimleiter hatte eine vollkommen andere Haltung zu diesem Thema: „Ich brauche in meinem Heim keine Heimaufsicht, keinen MDK, ich habe die Kontrollen 365 Tage im Haus – ein funktionierendes Frühwarnsystem, kritische, empathische Pflegekräfte, kümmernde Angehörige und Ehrenamtliche, ein angstfreies Arbeitsklima. Und wenn ich um 12 Uhr am Mittag noch von keiner Beschwerde gehört habe, dann werde ich unruhig!“
Müsste sich auch die Ausbildung der Pflegekräfte ändern? Welche Bereiche und Kompetenzen werden bisher nicht ausreichend berücksichtigt?
Über das Thema Ausbildung wird seit vielen Jahren diskutiert und geschrieben („Generalistik“). Ich befürchte, dass zu viele Pflegefunktionäre und Pflegewissenschaftler dieses Thema ideologisiert haben. In zahlreichen Altenpflegeschulen und in vielen Heimen haben sie große Sorgen, überhaupt genügend geeignete, motivierte, kompetente Menschen mit deutschen Sprachkenntnissen zu finden.
Zum grundsätzlichen Personalmangel, kommt ja noch die Tatsache, dass sich inzwischen viele Pflegekräfte aus der Altenpflege verabschieden, weil sie Belastung und Druck nicht mehr aushalten. Was könnten sie selbst ändern, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen?
Wie kommen wir aus diesem Teufelskreis? Eine sehr gute und schwierige Frage. „Eigentlich“ haben wir hier auch keine Erkenntnisprobleme. Es gibt doch sehr viele vorbildliche Einrichtungen, die ihre Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter und vor allem die Auszubildenden pflegen, sie tatsächlich wertschätzen, anleiten, begleiten, sie ordentlich bezahlen, sie nicht ausbeuten, gesundheitsfördernde Angebote machen, Seelsorge und psychologische Begleitungen anbieten. Zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – zufriedene Gäste/Angehörige sind dann die Folge.
In zahlreichen Fachzeitschriften, die leider wenig gelesen werden, stehen unzählige Beiträge zu diesem Thema! Gute Pflege ist außerdem eine Frage der klaren ethischen Haltung, des Selbstbewusstseins, der fachlichen und sozialen Kompetenz und auch von Zivilcourage. Kaum auszuhalten ist, das weit verbreitete Klima der Angst und des Schweigens, von Mobbing und dass (selbst-)kritische, couragierte Pflegekräfte als Nestbeschmutzer denunziert werden. Wir brauchen sicher auch einen besseren Schutz für „Whistleblower“ in der Pflege! Ehrlich: „Die Pflege“ kollabiert nach eigenen Aussagen seit über 30 Jahren!
Was raten Sie besorgten und hilflosen Angehörigen? Wie können sie gegen Missstände vorgehen, ohne die Betreuung und Pflege z.B. der Eltern noch mehr zu verschlechtern?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Meine eigene pflegebedürftige Mutter (die vor einigen Monaten bei uns zu Hause – palliativ – versorgt-verstorben ist) hat mich bei einem Klinikaufenthalt angefleht: „Versprich mir in die Hand, dass Du dich nicht beschwerst! Sag nichts – ich habe Angst!“ Ich konnte meine eigene Mutter nicht beschützen, obwohl wir sie täglich besucht haben! ALLE (!) Angehörigen bitten mich um Anonymität, haben Angst sich zu beschweren. Ich empfehle (die Situationen sind verschieden) in der Regel zur Diplomatie, wenn man Glück hat, noch andere Angehörige zu finden; eventuell einen Heimwechsel. Die meisten Angehörigen haben resigniert! Ich kann es nicht begreifen, dass sich „in der Pflege“ dazu niemand schämt!
Offensichtlich lassen sich ja im Regelspiel des weit verbreiteten Kosten-Nutzen-Denkens mit Gesundheit, Krankheit und Pflege attraktive Renditen verdienen. Liegt das Problem also nicht viel, viel tiefer?
Sicherlich ist dies immer wieder ein Dauerthema. Ich bin und war immer schon der Meinung/Überzeugung, dass „man“ mit den „Produkten“: Pflege, Krankheit, Gesundheit nicht an die Börse gehen, Renditen erzielen kann. Diese Produkte können „eigentlich“ nicht markt- und börsenfähig sein. Viele kritisieren dieses „System“, die meisten machen aber mit und verdienen häufig auch sehr gut in dem von ihnen kritisierten System „Monethik statt Ethik“. Ein gigantischer Markt, unzählige Akteure sind auch auf zahlreichen Kongressen unterwegs und es scheint zu funktionieren. Und auch hier gibt es nicht nur „schwarz und weiß“. Ich kenne viele gut geführte private und auch börsenorientierte Einrichtungen. Viele tausende Pflegekräfte, Ärztinnen/Ärzte und andere Gesundheitsberufe arbeiten in diesen Einrichtungen sind offensichtlich mit Gehalt und Arbeitsbedingungen zufrieden. Niemand wird gezwungen dort zu arbeiten. Jede Pflegekraft kann sich ihren Arbeitsplatz aussuchen!!!
Herr Fussek, Jahrzehnte sind Sie engagierte, mutige und unermüdliche Stimme dieser wehrlosen, älteren Menschen und Ansprechpartner für verzweifelte Pflegekräfte und hilflose Angehörige gewesen. Nun sind Sie am 1. Februar dieses Jahres in den Ruhestand gegangen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass Claus Fussek verstummen wird oder? Welche Pläne haben Sie? Was wird aus den Dokumenten? Wie wird ihr Ruhestand aussehen?
Ich bin im „Unruhestand“, das Thema Pflege lässt mich natürlich nicht los. Denn die meisten meiner ca. 250 Ordner mit weit über 50.000 Schicksalen, Hilferufen aus der bundesdeutschen Pflegeszene befinden sich noch in meinem Büro der Vereinigung Integrationsförderung e.V. (VIF) in München, einem ambulanten Pflegedienst, den ich 1978 mitbegründet habe.
Diese Ordner, angelegt in über 30 Jahren Arbeit, dokumentieren schwarz auf weiß die jahrzehntelangen Missstände, Berichte von Heimleitern, Pflegekräften und Angehörigen – wahrscheinlich das größte Archiv zu diesem Thema in Deutschland, wenn nicht sogar in Europa. Inzwischen bin ich sehr erleichtert, dass die Robert Bosch Stiftung in Stuttgart das Archiv mit allen Originaldokumenten zur wissenschaftlichen Aufarbeitung übernehmen wird und auch der Pflegeschutzbund BIVA in Bonn bei Bedarf Zugriff auf die Unterlagen bekommt. Das sind ja wahre Geschichten, mitten aus unserer Gesellschaft. Dann wäre das Leiden nicht ganz so sinnlos. Das leere Büro wird mir sicher zunächst sehr komisch vorkommen, dennoch meine Stimme bleibt hörbar.
Herr Fussek, wir danken Ihnen.
Vita: Claus Fussek
Claus Fussek – geb. 1. Februar 1953, verheiratet, zwei Söhne – ist Diplom-Sozialpädagoge. Seit über 45 Jahren ist er in der häuslichen Pflege tätig (Vereinigung Integrationsförderung e.V. in München) und engagiert sich bundesweit öffentlich für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der häuslichen und stationären Pflege. Er ist u.a. Mitautor des Buches: „Im Netz der Pflegemafia – wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden" und „Es ist genug! Auch alte Menschen haben Rechte“ (Fussek/Schober) Für sein besonderes Engagement wurde ihm im Januar 2008 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Seit 1. Februar 2022 ist Claus Fussek im Ruhestand.
Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Herr Fussek beantwortete diese schriftlich am 25. April 2022.