Wichtiger als unser Leben

Buchbesprechung
„Wir hinterlegen jetzt das Beweismaterial für die Verbrechen"

Rund 35.000 Seiten umfasst das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, der wichtigste Quellenbestand von Jüdinnen und Juden aus der Zeit des Holocaust, gesammelt und vergraben in Blechkisten und Milchkannen in einem beispiellosen Akt des Widerstandes von der Untergrundgruppe Oneg Schabbat um den Historiker Emanuel Ringelblum. Es war der erste Versuch, die Schoah während sie geschah systematisch und aus der Sicht der Betroffenen zu dokumentieren. Im Wallstein Verlag erschien 2023 anlässlich der Ausstellung „Wichtiger als unser Leben. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos“, die das NS-Dokumentationszentrum München gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum in Warschau verwirklichte, der gleichnamige Band – ein Band, welcher angesichts der Eskalation von Gewalt und Hass im Nahen Osten nicht aktueller sein könnte.

(©Buchcover: Wallstein-Verlag)
(©Buchcover: Wallstein-Verlag)


3,3 Millionen Jüdinnen und Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen, und Warschau, jeder dritte Einwohner war dort jüdisch, war das kulturelle, religiöse und politische Zentrum dieser diversen Gemeinschaft. Allein in Warschau gab es 440 Synagogen und Gebetshäuser, zahlreiche religiöse Vereinigungen und Verbände, Sportvereine und Jugendorganisationen sowie mehr als 250 soziale Einrichtungen.

Ein Jahr nach Beginn des deutschen Angriffskrieges begannen die Nazis die jüdische Bevölkerung in einen Teil der Stadt mit Mauern abzuriegeln, „eine hohe Mauer aus rotem Backstein, oben mit zerbrochenem Glas und scharfen Metallspitzen versehen, zwei Bezirke ein und derselben Stadt,“ so Cezary Ketling Szemley in seinem Bericht, Dezember 1942.
Nach und nach verkleinerten die Nazis das Gebiet, das der Ghettobevölkerung zur Verfügung stand. Gleichzeitig kam es zu einem ständigen Zustrom von Vertriebenen und Geflüchteten, so dass im April 1941 fast eine halbe Million Jüdinnen und Juden im Ghetto lebten. „Alle zwei Monate werden die Grenzen des Bezirks erneut geändert, was nichts anderes bedeutet als eine weitere Quälerei in einer Kette von nicht enden wollenden Schikanen und Verfolgungen. Zehntausende von Menschen werden meist zum zweiten, dritten, oft sogar vierten Mal innerhalb weniger Tage zur Umsiedlung gezwungen. […] Niemand ist mehr sicher, ob die Mauern ihn nicht verschlingen.“ (Stanislaw Rózycki, „Das ist das Ghetto“, Bericht Dezember 1941)

Überbevölkerung und die mangelnde Versorgung mit Nahrungsmitteln, die Tagesration war auf 230 Kalorien pro Person begrenzt, führten für viele zum „Tod auf Raten“.
„,Ich sterbe vor Hunger, ich sterbe vor Hunger, ich sterbe vor Hunger…’, schreit er den Passanten direkt ins Gesicht, in echoartiger Wiederholung und voll Ungestüm, und seine wild blickenden Augen richten sich auf die sonnenbeschienenen Balkone: ,Ich verhungere’. Nichts anderes sagt er als ,Ich verhungere’. Sein Körper wird zusehends schwächer – Woche für Woche, Tag für Tag. Seine Stimme wird leiser, etwas heiserer. Aber seine Worte sind immer noch wütend und verzweifelt; es werden seine letzten sein. Er steht da und schreit mit tief bewegter Stimme: ,Ich verhungere.’ Er krächzt wie eine Schar Krähen, und sein Schrei ist kaum mehr zu vernehmen, nur einige kurze, gebrochene, heisere Töne dringen durch: ,Ich sterbe vor Hunger, ich sterbe vor Hunger, ich sterbe vor Hunger’…“ (Icchak Berensztein, Prosagedicht, Warschau 1941)

Etwa 100.000 Männer, Frauen und Kinder starben an den furchtbaren Bedingungen im Ghetto. Von Juli 1942 bis September 1942 deportierten die Nationalsozialisten dann mehr als 260.000 Menschen aus Warschau in das Vernichtungslager Treblinka, wo sie ermordet wurden.

Der Historiker und Lehrer Emanuel Ringelblum begann seine Untergrundaktivitäten in den ersten Tagen der deutschen Besatzung. Er organisierte eine im Geheimen arbeitende Gruppe von bald 60 Personen, die unter dem Decknamen Oneg Schabbat (Freude des Schabbat) den Alltag des Ghettos genau dokumentierte. Sie sammelten und produzierten von 1939 bis 1943 eine Fülle an Material und versteckten es für die Nachwelt. Mit Beginn des systematischen Mordes an den polnischen Jüdinnen und Juden wurden sie unwillentlich zu Chronistinnen und Chronisten der Shoah, die sie selbst mit wenigen Ausnahmen nicht überlebten.

2. August 1942
Ich schreibe mein Testament während der Deportationen des Warschauer Judentums. Sie hält seit dem 20. Juli ununterbrochen an. [...] Es ist der 14. Tag dieses grausamen Geschehens. Wir haben praktisch jeden Kontakt zu unseren Genossen verloren. Jeder ist auf sich allein gestellt, um sich so gut es geht zu schützen. Drei von uns sind noch übrig: Genosse Lichtensztejn, Grzywacz und ich. Wir haben beschlossen, unsere Testamente zu schreiben, etwas Material über die Deportationen zu sammeln und alles zu vergraben. Wir müssen uns beeilen, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit uns noch bleibt. [...]
Wir spürten die Verantwortung. Wir hatten keine Angst, ein Risiko einzugehen. Uns war bewusst, dass wir Geschichte machten. Und das war wichtiger als unser Leben. [...] Was wir nicht in die Welt hinausrufen und -schreien konnten, haben wir im Boden vergraben.
Ich will keinen Dank. [...] Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Damit die Welt alles erfährt. Damit diejenigen, die es nicht überleben, getröstet sein können [...]. Aber nein, wir werden das gewiss nicht erleben, und deshalb schreibe ich meinen Letzten Willen nieder. Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er bis in bessere Zeiten überdauern, möge er die Welt alarmieren und auf das aufmerksam machen, was geschehen ist [...] im 20. Jahrhundert. [...] Wir können jetzt in Frieden sterben ... Wir haben unseren Auftrag erfüllt ... Möge die Geschichte für uns zeugen. David Graber, 19 Jahre
Aus David Graber, Mein letzter Wille [Fragmente], 2. August 1942
David Graber vergrub Teile des Archivs. Er kam kurz darauf ums Leben.

Ich weiß, dass wir nicht standhalten werden. Solch schreckliche Morde und Untaten zu erleben und selbst weiterzuleben, ist unmöglich. Deswegen schreibe ich hier mein Vermächtnis nieder. Vielleicht bin ich nicht wert, dass man sich meiner erinnert – aber doch meiner Mitarbeit in der Gruppe „Oneg Schabbat“ und daran, dass ich in der größten Gefahr schwebte, weil ich das gesamte Material versteckt hatte. Den eigenen Kopf hinzuhalten, wäre eine Kleinigkeit. Aber ich riskiere auch den Kopf meiner lieben Frau, Gela Seksztejn, und den meines Schmuckstücks – meines Töchterchens Margolis.
Ich will dafür keinen Dank, kein Denkmal, keine Lobreden, ich will nur, dass man sich meiner erinnert, damit mein Bruder und meine Schwester auf der anderen Seite des Meeres einmal wissen werden, wo meine sterblichen Überreste geblieben sind.
Ich will, dass man sich meiner Frau erinnert, Gela Seksztejn, Malerin, die Dutzende Bilder hergestellt hätte, es aber nicht konnte, nicht im Rampenlicht stehen konnte. [...] Jetzt bereitet sie sich mit mir zusammen auf den Tod vor.
Ich will, dass man sich meiner Tochter erinnert. Margolis ist heute 20 Monate alt. Beherrscht vollkommen die jiddische Sprache. [...]
Ich betrauere nicht mein Leben oder das meiner Frau, leid ist es mir nur um das kleine, wohlgeratene Mädchen. Auch sie ist es wert, dass ihrer gedacht wird.
Izrael Lichtensztejn, Mein Vermächtnis, Warschau, 31. Juli 1942
Izrael Lichtensztejn vergrub im Juli 1942 Teile des Archivs in einem Schulkeller. Izrael Lichtensztejn, Gela Seksztajn und ihre Tochter Margolis überlebten die Deportationen im Sommer 1942, kamen aber kurz vor oder während des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943 ums Leben.

Nach dem Krieg konnte ein Großteil des in Blechkisten und Milchkannen vergrabenen Archivs unter den Ruinen des Ghettos wiedergefunden werden. Mit seinen rund 35.000 erhaltenen Seiten zählt das Archiv seit 1999 zum UNESCO Weltkulturerbe. Aus den Zehntausenden von Blättern haben die Ausstellungsmacher eine kleine Auswahl von bewegenden Dokumenten ausgewählt. Sie betreffen die Gründung der Oneg Schabbat-Gruppe, die Konzeption des Archivs sowie den Alltag im Ghetto und spiegeln die große Bandbreite der gesammelten und produzierten Dokumente wider: Tagebücher, Berichte, Statistiken, Briefe, Lebensmittelkarten, Fotografien, deutsche Zeitungen, jüdische Untergrundzeitschriften.
Über viele, deren Texte im Ringelblum-Archiv überliefert sind, ist wenig bekannt. Doch durch die Dokumente wissen wir ihre Namen, wissen, dass es sie gab, sie werden als Individuen sichtbar, wie Gustawa Jarecka:
„Wir haben den Hals in der Schlinge, und wenn ihr Druck einen Moment nachlässt, drängt sich ein Schrei heraus. Man soll seine Bedeutung nicht überbewerten. Nicht zum ersten Mal ertönte in der Geschichte dieser Ruf. Er ertönte lange vergeblich und löste erst später einen fernen Widerhall aus.
Dokumente und ein Schmerzensschrei, Sachlichkeit und Zorn vertragen sich schlecht miteinander. Und doch kann es nicht anders sein. Ich verzeichne die Zahlen, und hinter den Zahlen taucht unwiderruflich das Bild der Straße auf, wie sie einmal war, tauchen Menschen auf, die nicht mehr da sind, so unerhörte Geschehnisse, dass man sie festhält, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie nicht ein Traum waren.“
( Gustawa Jarecka, verfasst im Herbst 1942, kurz nach dem Ende der Massendeportationen aus dem Warschauer Ghetto)

„Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er bis in bessere Zeiten überdauern, möge er die Welt alarmieren und auf das aufmerksam machen, was geschehen ist [...] im 20. Jahrhundert. …“
Gibt der 19-jährige David Graber in seinem letzten Willen im August 1942 der Nachwelt mit auf den Weg.
Drohen wir zu vergessen, was geschehen ist? Drohen wir zu vergessen, warum Juden und Jüdinnen besonders in Deutschland wieder und wieder erklären: „Der Staat Israel ist unsere Lebensversicherung.“ Eine „Lebensversicherung“, die ebenso für die palästinensische Bevölkerung abgeschlossen und garantiert werden muss. Mit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober ist diese „Lebensversicherung“ im Mark erschüttert worden. Meron Mendel, israelisch-deutscher Publizist, Historiker und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank sprach am 14. Januar, 100 Tage nach dem Hamas-Angriff, gegenüber der Tagesschau von der „Retraumatisierung einer ganzen Gesellschaft“: „Ich habe bei meinem jüngsten Besuch die Familie und Freunde getroffen, fast ausschließlich Menschen, die sich seit vielen Jahren für Frieden engagieren, die auch seit Januar vergangenen Jahres aktiv am Protest gegen Benjamin Netanyahu teilgenommen haben. Und alle sind immer noch so stark vom Ausmaß der Grausamkeit der Gräueltaten vom 7. Oktober schockiert. Hinzu kommt auch die anhaltende und zunehmende Sorge um die Geiseln. (…)
Was passiert ist, hat gerade die Menschen in Israel getroffen, die sich für Frieden und Versöhnung eingesetzt haben, weil die Hamas nicht die Armee angegriffen hat, nicht die Siedler, sondern die Kibbuzim und Dörfer an der Grenze zum Gazastreifen, die dafür bekannt sind, dass sie Teil der Friedensbewegung sind. Einige von den Ikonen der Friedensbewegung wie Vivian Silver aus dem Kibbuz Be'eri wurden brutal ermordet. Dadurch ist vielen Israelis klar geworden, dass die Hamas alle Juden in Israel ermorden will. (…) Ich traf mich mit den Eltern meines besten Freundes, mit denen ich meine ganze Jugendzeit verbracht habe und für die ich wie ein zweiter Sohn bin. Die Schwester meines Freundes wurde mit ihrem Mann am 7. Oktober ermordet. Die Schwester hat sich, als die Terroristen ihr Haus angriffen, schützend über ihren Sohn geworfen, der dadurch nur verletzt wurde und überlebte. Ihr Vater sagte mir: „Meine Mutter musste erleben, wie ihre Eltern während der Pogrome im damaligen Polen vor ihren Augen ermordet wurden. Und jetzt musste mein Enkelsohn sehen, wie seine Eltern vor seinen Augen ermordet wurden.
Das Familientrauma hat sich also wiederholt, vor ihren Augen. Für viele Menschen sind die Angriffe vom 7. Oktober deshalb ein weiteres Glied in der langen Kette von Verfolgung und Pogromen. Das sind Erzählungen und Geschichten, die jeder in Israel aus der eigenen Familie kennt.“

Wir haben den Hals in der Schlinge, und wenn ihr Druck einen Moment nachlässt, drängt sich ein Schrei heraus. Man soll seine Bedeutung nicht überbewerten. Nicht zum ersten Mal ertönte in der Geschichte dieser Ruf. Er ertönte lange vergeblich …“, schrieb Gustawa Jarecka im Herbst 1942, kurz nach dem Ende der Massendeportationen aus dem Warschauer Ghetto.
Hören wir den Schrei noch, der sich nicht nur im Nahen Osten herausdrängt, oder sind wir vielleicht zu stark von lauten, ablenkenden Wortgefechten umschallt. „Ihr braucht zu viele Worte dafür – braucht weniger Worte. Meine Mission ist: Ich sage, seid Menschen. Wir sind alle gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Alles ist gleich. Wenn ihr Menschen seid, dann werdet ihr wissen, dass ein Mensch so was nicht machen würde.“, so Margot Friedländer, die Holocaust-Überlebende.
„Wichtiger als unser Leben“. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, herausgegeben für das NS-Dokumentationszentrum München von Ulla-Britta Vollhardt und Mirjam Zadoff ist jedenfalls eine bewegende Herausforderung: „Seid Menschen.“


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Mittwoch, 7. Februar 2024

Buchbesprechung

„Wir hinterlegen jetzt das Beweismaterial für die Verbrechen"

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