„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen"
„Youkali, Youkali“ sang die Sopranistin (Sylvia Bleimund) und die Musik von Kurt Weill schwang durch den Raum. Vorab „Flügel, Flügel, um zu fliegen“ nach einem Text von Rückert zu den Tönen von Robert Schumann. Und auch Friedrich Schiller kam zu Wort: „Könnt ich doch den Ausgang finden, ach, wie fühlt ich mich beglückt!“
Seit alters her sehnen sich die Menschen nach dem Idealzustand der Gerechtigkeit und des Wohlergehens. Kurt Weill nannte seinen Sehnsuchtsort das Land „Youkali“, Friedrich Schiller beschrieb den Ort als „ferne Hügel mit himmlischen Harmonien und ewiger Sonne und Jugend“.
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen – 70 Jahre Menschenrechtserklärung“. Convivio mundi e.V. hatte Sylvia Bleimund (Sopran) und Christina Worthmann (Klavier) eingeladen, Lieder zu Freiheit und Gerechtigkeit zu den Texten hinzu zu fügen, die Mitglieder des Vereins am Dienstag im Leibnizhaus in Hannover vortrugen.
„Das Nachdenken über die 70 Jahre, die seit der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 vergangen sind, verursacht ein gewisses Unbehagen“, begann Renate Müller De Paoli ihre einleitenden Worte. Was wurde erreicht? Ist die Menschheit wirklich ein Stück vorangekommen?
Artikel 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Artikel 2
Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.
Sind die Worte „Jeder hat das Recht…“ für uns so selbstverständlich geworden, dass wir uns keine Fragen mehr stellen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass wir unsere Sehnsüchte angesichts des offensichtlichen Versagens der Institutionen, die allgemeinen Menschenrechte zu realisieren, lieber auf die kleinen, naheliegenden Annehmlichkeiten des Lebens richten, auf die wir zumindest im Norden der Welt zahlreich zurückgreifen können. Wir – die Kinder der reichen Welt – , wie Renate Müller De Paoli es formulierte, als moderne Fassung des Gedichtes „Kinder reicher Leute“ von Mascha Kaléko, das von Andreas Richter vorgetragen wurde.
Insgesamt wurden 11 Artikel der Menschenrechtserklärung verlesen. Ausgewählt waren u. a. : das Recht auf Asyl, das Recht auf soziale Sicherung, das Recht auf einen Lohn, der ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, das Recht auf Freiheit von Folter, Sklaverei oder erniedrigender Behandlung.
Die Texte von Mahatma Gandhi, der 1948 von einem religiösen Fanatiker getötet wurde, frappierten in ihrer Klarheit. Zorn als Quelle von Energie, die Gutes bewirken kann; die Frage, ob das, was man tut, dem ärmsten Menschen der Welt wirklich hilft; Gewaltlosigkeit als ein Ausdruck der Furchtlosigkeit und Stärke, und die größte Aufgabe: die zu lieben, die wir hassen.
Zwei private Briefe von Nelson Mandela, die er 1969 und 1971 aus dem Gefängnis an seine Frau Winnie Mandela sowie an seine 12-jährige Tochter schrieb, zeigen die große menschliche Stärke eines „Outlaw“, der auch schon in den Jahren vor seiner Inhaftierung teils im Ausland, teils im Untergrund leben musste. In seinem Brief an Winnie, die zu dieser Zeit ebenfalls inhaftiert war, erinnert er sich an seinen Sohn Thembekile aus erster Ehe. Mandela hatte gerade erfahren, dass dieser im Alter von 24 Jahren bei einem Autounfall sein Leben verloren hatte und er ihn nie wiedersehen würde. Im Brief an seine Tochter erinnert er sie an ihre seltenen Begegnungen, an seine Sehnsucht, sie zu sehen, und wie schwer es ihm fiel, als sie als kleines Kind glaubte, er habe sie und ihre Mutter im Stich gelassen.
1967 veröffentlichte Martin Luther King auf dem Höhepunkt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung das Buch: Where do we go from here – Chaos or Community? Convivio mundi e.V. las Auszüge aus dem sechsten Kapitel mit dem Titel „Das Haus der Welt“.
In drastischen Worten führt King den Leser zu dem Schluss, dass nach 100 Jahren technologischer und wissenschaftlicher Fortschritte die „innere Welt des Menschen“, die in der Kunst, Literatur, der Religion ihren Ausdruck findet, „nachhinkt“, ja dass die moralische Welt in der immer schneller sich wandelnden äußeren Welt unterzugehen droht. „Wir haben zugelassen, dass die Mittel, mit deren Hilfe wir leben, die Ziele, für die wir leben, weit überholt haben“. Wenn dieses nicht aufgehalten werde, so King, könne die große Aufgabe der Menschheit, in brüderlicher Nachbarschaft zusammenzuleben, nicht gelöst werden. „Gemeinsam müssen wir lernen, als Brüder zu leben, oder wir werden gemeinsam gezwungen sein, als Toren zu sterben.“
„Haus ohne Dach, Kind ohne Bett, Tisch ohne Brot“ schreibt Mascha Kaléko, die 1938 aus Deutschland emigrieren musste, in ihrem Gedicht „Inventar“. Und in der letzten Strophe: „Brot ohne Tisch, Bett ohne Kind, Wort ohne Mund, Ziel ohne Flucht.“ Und in dem Gedicht „Heimweh“: „Das Weh, es blieb, das Heim ist fort“.
Aus des Knaben Wunderhorn (Gedichtsammlung Nr. 12)
Das irdische Leben
„Mutter, ach Mutter, es hungert mich!
Gieb mir Brot, sonst sterbe ich!“
„Warte nur! Warte nur, mein liebes Kind!
Morgen wollen wir ernten geschwind!“
Und als das Korn geerntet war,
rief das Kind noch immerdar:
„Mutter, ach Mutter, es hungert mich!
Gieb mir Brot, sonst sterbe ich!“
„Warte nur! Warte nur, mein liebes Kind!
Morgen wollen wir dreschen geschwind!“
Und als das Korn gedroschen war,
rief das Kind noch immerdar:
„Mutter, ach Mutter, es hungert mich!
Gieb mir Brot, sonst sterbe ich!“
„Warte nur! Warte nur, mein liebes Kind!
Morgen wollen wir backen geschwind!“
Und als das Brot gebacken war,
lag das Kind auf der Totenbahr'!“
Was soll man sagen zu einem Lied, das diesen Text vertont hat? Noch heute klingt es gewagt, was Gustav Mahler komponiert hat. Heute kennen wir die Bilder hungernder Kinder aus den Nachrichten der Welt. In früheren Zeiten wurden Gedichte darüber geschrieben. Auch „Die Gedanken sind frei“ hat Mahler in einen musikalischen Dialog im „Lied des Verfolgten im Turm“ hineingenommen; dargeboten, nachdem das Volkslied erklungen war. Heimweh, Sehnsucht, aber auch Humor klangen in den Liedern von Schumann, Mendelssohn-Bartholdy und Leonard Bernstein (angeregt durch den Vietnamkrieg). Die Wiegenlieder von Garcia Lorca und Xavier Montsalvatge waren ein liebevoller Gegenpol. Auch die Möglichkeit, Freiheit zu erfahren, indem man loslässt, in den Liedern von Ethel Smyth.
Musik und gesprochener Anteil des Programms waren nicht aufeinander abgestimmt wie ein Ton-in- Ton-Blumenstrauß. Es war eher ein Strauß vieler bunter Blumen – Ideen, vielleicht wie auf einer Wiese gepflückt. Sie erzählten von Menschen, die ihr Leben den Rechten aller Menschen gewidmet haben. Und sie drückten trotz allem Hoffnung aus, wie auch Schiller im gleichnamigen Gedicht, vorgetragen von Steffen Brosig: „Und was die innere Stimme spricht, das täuscht die hoffende Seele nicht.“
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen“ – sagt Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Emigranten“ aus dem Jahr 1937.
Und das empfanden auch diejenigen so, die diesen Abend gestaltet und miterlebt hatten.